Der Mantel - Roman
Schmidt hatte nachmittags wenige Termine, die Gerichte beraumten sie für den Vormittag an. So nahm er den Jungen zum Anlass für eine Unterbrechung seiner Arbeitsroutine. Meist ging es dann zum Isarufer, Stöckchen werfen und schlendern. Schmidt erzählte Fabian von großen Gestalten der Weltgeschichte. Am meisten interessierten Fabian Schurken mit einer sozialen Ader, Robin Hood etwa oder Störtebeker. Dass Störtebeker noch im Tod, enthauptet, seine Männer gerettet haben soll, indem er an ihnen vorbeilief, ließ Fabian nicht los. Woher Schmidt das alles wüsste? Ob es denn auch wahr sei? Schmidt musste manches noch einmal nachlesen, um von Fabian aufgedeckte Unstimmigkeiten zu bereinigen. Sie kamen zu seiner Erleichterung nie auf das Vaterding zurück, aber Schmidt spürte, wie Fabian seine Nähe suchte. Er ahnte wohl, dass Schmidt auf die Diskussion des Themas, wie geschehen, nur mit Abwehr und Unbehagen reagieren würde. Aber Fabian hatte seinen väterlichen Freund gefunden und einen geliebten Hund dazu.
Nur einmal, an einem Wintertag, brach das Thema, ihr erstes Leitmotiv, wieder auf. An diesem Tag wollte Schmidt das Grab seines Vaters besuchen. Der Plan war seit Tagen in ihm gereift, und es war wegen der frühen Dunkelheit nicht sinnvoll, nach halb drei am Nachmittag loszugehen. Als er gerade aufbrechen wollte, schneite Fabian herein. Schmidt wollte ihn vertrösten: »Heute nicht. Ich besuche das Grab meines …«, er stockte kurz, versuchte es dann mit entschlossenerer Stimme, »… das Grab meines Vaters. Lass uns morgen oder nächste Woche gehen.«
»Da habe ich eigentlich keine Zeit. Warum kann ich denn nicht mitkommen?«
»Das verstehst du nicht, es ist ein persönlicher Besuch, ich möchte an dem Grab allein sein.«
»Ach so, ich würde trotzdem so gerne mitkommen. Ich werde nicht stören, ich kann ja irgendwo rumlaufen, wenn du an dem Grab allein bleiben möchtest.« Der Junge hatte leise gesprochen, wahrscheinlich wollte er vermeiden, dass seine Mutter Zeugin des Gesprächs wurde. Zu gewiss wäre ihr Eingriff. Trotzdem war er eindringlich wie am ersten Tag.
Schmidt gab auf: »Einverstanden. Aber nur, wenn du mir am Grab meine Ruhe lässt. Und …«, jetzt grinste er, »… auf dem Friedhof werden keine Stöcke geworfen. Und kein Wettrennen mit Shiva und auch der Störtebeker ist kein Thema. Kapiert?«
»Cool. Versprochen!«
Cool, ja so konnte man es auch sehen. Schmidt nahm die Leine, Shiva gebärdete sich wie wild. Als sie das ehrfurchtgebietende ochsenblutrote Portal passierten, wurde der noch in der Straßenbahn gesprächige große blasse Junge still. Der Mantel hing in weiten Falten an ihm herunter, das ausladende Kinn schien wie eingezogen. Mit leicht geneigtem Kopf stapfte er vorwärts, als bereiteten ihm die Bewegungen Mühe. Seine Augen wanderten zwischen Shiva und den Gräbern hin und her.
»Du warst wirklich noch nie auf einem Friedhof?«, fragte Schmidt.
»Nicht dass ich mich erinnere. Habe auch noch keine Beerdigung gesehen.«
»Macht dir das Angst?«
»Nein. Ist aber auch nicht cool.«
»Kalt, ja. Aber cool ist es nicht. Ist auch nicht der Zweck.«
Der Heranwachsende blickte ihn kurz genervt aus den Augenwinkeln an. »Was sollen diese kleinen Häuser da?«
»Das sind Familiengräber in Form kleiner Andachtshäuser. Das ist ein besonderer Friedhof. Soll ich dir etwas über seine Geschichte sagen?«
»Lieber nicht.«
»Lieber nicht?«
»Ja, wenn es dir nichts ausmacht. Ich muss mich erst daran gewöhnen. Will lieber nichts hören.«
Schmidt ging schweigend weiter, dem Hund nach. Er erinnerte die Strecke offenbar gut. Die dünne Schneedecke verlieh der Szenerie etwas Elegisches. Still und feierlich, weißes Licht. Wie angemessen, dachte Schmidt. Er freute sich, nach längerem das Grab wieder besuchen zu können, und war auf seine Zwiesprache mit seinem Stiefvater gespannt. Sie bogen in den kleinen Stichweg ein, der Hund saß regungslos vor dem schwarzen Stein mit den goldenen Lettern. Fabian sagte mit belegter Stimme: »Da ist es.« Er starrte kurz auf die Inschrift, als wollte er sie sich einprägen. Dann ging er den Pfad zum nächsten Kreuzweg weiter: »Ich schau mich mal hier um.« Es klang so beiläufig wie das Gemurmel der Kriminalbeamten am Tatort bei deutschen Serienkrimis.
»Einverstanden«, brummte Schmidt. Shiva schaute Fabian unschlüssig nach, dann trottete er ihm hinterher. Schmidt war allein. ›Es geht mir recht gut, wie geht es dir?‹, dachte er. Er
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