Der Mantel - Roman
meinte, Wärme würde vom Grab zu ihm strahlen.
Er versank in Gedanken an Franz, an seine Mutter, an die Mahnungen seines Vaters. Er hatte sie befolgt. Es lief alles einigermaßen. Wenn auch viel von seiner derzeit komfortablen Lage dem seelischen Elend einer anderen Person zu verdanken war. Aber nicht einmal hier, im Angesicht seines Kindheitsvaters, schien ihm das eine Verfehlung zu sein. Immerhin linderte er das Elend, so gut es ihm möglich war. Dann geriet der zwischen den Gräbern streunende Junge in seinen Gedankenstrom. Was war die größere Prüfung? Ein anderer Vater oder ein unbekannter, verschollener Vater, einer, der irgendwo da draußen in der Welt ist? Einer, der nicht einmal Notiz von seinem eigenen Kind nehmen will. Es ablehnt, nicht sehen will, schon gar nicht kennenlernen. Nein, das war viel grausamer als Schmidts eigene Situation. Er hatte immer einen sorgenden Vater gehabt. Und immer noch einen anderen, aus der Ferne winkend. Der wusste, dass sein Kind besser aufwuchs, als er es hätte selber sicherstellen können. Der vermutlich auch darunter litt. Schweigen zu müssen, sich nicht erkennen geben zu können, ist auch eine Strafe. Wie eine unerfüllte Liebe, an der Quelle, aber für immer in der zweiten Reihe stehend. Plötzlich wurde Schmidt mit voller Deutlichkeit bewusst, dass er seinen richtigen Vater, Tomas´, würde sehen müssen. Ihm die Gelegenheit geben, sich zu erklären. Eine für Schmidt ebenso klare wie schmerzliche Vorstellung. Entsetzlich, weil Tränen fließen würden, Umarmungen und Beteuerungen drohten. Er wischte diese Bilder beiseite, die ihm tiefstes Unbehagen bereiteten. Du musst tun, was zu tun ist. Er war sich dessen, vor dem Grab seines Vaters stehend, so sicher, dass er darin die Zustimmung von Karl vermutete. Sicher, dass Karl ihm die Idee durch den verschneiten Wintertag zugerufen hatte. Sie wäre jedenfalls ganz in seinem Sinne. Das fühlte er in aller Ergebenheit vor der Ruhestätte seines Stiefvaters. Er nickte und murmelte: »Danke Papa. Ich komme wieder.«
Dann ging er nach seinen beiden Begleitern suchen. Fabian hatte, wie Schmidt im Augenwinkel beobachtete, scheu die Grabsteine angeschaut. Er schien sich besonders hingezogen zu fühlen zu den dramatischen Anlagen mit großen Engeln, pathetisch in tiefem Schmerz hingegossenen Jungfrauen sowie von den wenigen sparsamen schmiedeeisernen Kreuzen. Gelegentlich hatte er kleine Schneebälle geformt und sie verstohlen wenige Meter weit geworfen. Shiva war ihnen nachgerannt und hatte sie kurzerhand gefressen. Shiva liebte es, in den Schnee zu beißen. Hier war kaum welcher gefallen, und die kleinen Schneebälle waren offenbar ein guter Ersatz für den von ihm bevorzugten Tiefschnee.
Fabian stellte ihm, als sie wieder zueinander kamen, gleich eine Frage: »Wer sind die Barmherzigen Schwestern von Vinzenz und Paul?«
»Ich weiß es nicht. Ein Frauenorden, nehme ich an. Wieso fragst du?«
»Die haben so schöne einfache Kreuze. Ich finde die Engel mit den Zweigen und die Tauben und das alles krass.«
»Krass sagst du. Hm. Kitschig passt eher, finde ich.«
»Redest du wirklich mit deinem Vater, wenn du hier bist?« Wieder der bohrende Blick aus den weit auseinander liegenden Augen.
»Auf gewisse Weise schon, ja. Ich prüfe meine Gedanken an seinen Maßstäben.«
»Vielleicht fände ich das auch gut, wenn mein Vater hier wäre. Dann könnte ich mit ihm sprechen, so wie du.«
Schmidt war so perplex, dass er erst einmal nichts sagte. Sie gingen rasch auf den Ausgang zu, während das Licht versiegte und der Schnee das Hellste um sie herum war. »Wie meinst du das?«, hakte er schließlich nach.
»Nur so. Wenn er hier wäre, würde ich ihn ja bei mir haben. Irgendwie. Ich wüsste, wo er ist. Was er macht …«
Sie gingen schweigend weiter. Dann setzte er nach: »Du weißt schon, wie ich es meine. Er macht halt nichts. Aber er wäre hier.«
Schmidt beeilte sich diesmal mit einer seinem Erwachsensein geschuldeten Antwort: »Ja, ich denke, ich verstehe dich. Du willst eine Gewissheit. Selbst wenn es hier an diesem Ort wäre. Aber Gewissheit hast du auch verdient. Sieh es trotzdem einmal so: Du hast eine tolle Mutter, die dich liebt, und jetzt auch einen Freund, einen älteren.« Wie schwer ihm das gefallen war. Wie wenig er an das Gesagte glaubte. Wie hohl das klingen musste.
Der Junge trat nur kurz zur Seite und stieß ihm sanft den Ellbogen in die Hüfte. Dann sagte er mit kecker Stimme: »Habe ich doch gesagt, dass
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