Der Mantel - Roman
Grover-Washington-CD in das Abspielgerät einlegte, dachte er über das Gespräch mit Fabian nach. Was steckte hinter seinen Fragen? War es allein die fehlgeleitete Sehnsucht eines Heranwachsenden nach einer Vaterfigur? Hatte er ihn, Schmidt, einfach in seine unvollständige Familienkonstellation hineinprojiziert? Ein willensstarker Junge mit einem unbeirrbaren Koordinatensystem. Wer war dieser ominöse Vater in Südamerika? Gab es ihn? Zahlte er Unterhalt? Das Gehalt, dass er der Graseder für ihre Dreiviertelstelle zahlte, würde in dem teuren München kaum reichen. Er stellte fest, dass er seine Anwaltsgehilfin so wenig zur Kenntnis genommen hatte, dass er nicht einmal wusste, ob sie gut gekleidet war, ob sie oft neue Kleidung trug. Es kam ihm nun bei angestrengtem Nachdenken so vor, als wäre sie meist sportlich angezogen, oft mit Hosen bekleidet und habe nur selten neue Sachen.
Über ihr Privatleben wusste er nichts oder nicht viel, nie hatte er sich dafür interessiert. Er beschloss, diesen Kurs auf keinen Fall aufzugeben. Allerdings würde er sich mit Fabian beschäftigen müssen. Schon weil der Junge ansonsten in seiner bedenkenlos nachdrücklichen Art dafür sorgen würde, dass dieses Thema irgendwann zwischen ihm und der Graseder zur Sprache käme. Obwohl, auf der anderen Seite gefiel Schmidt die Gründlichkeit, mit der Fabian seinen Fragen nachging. Nur die Schonungslosigkeit der Kommunikation war ihm fremd. Wie konnte Fabian derart rigoros eine Beziehung mit einem wildfremden Menschen einfordern? Sicher, der Junge suchte eine heile Familie. Auch Fabians moralische Haltung gefiel ihm, da er den eigenen Vater genau aus diesem Grund ablehnte. Er würde den Jungen hin und wieder auf die Spaziergänge mit Shiva mitnehmen. So würde er nicht permanent den Hundestock werfen müssen und hätte einen jungen Gesprächspartner, noch dazu einen so originellen, eine Bereicherung. Er beschloss, diese überraschende Freundschaft ihren Lauf nehmen zu lassen.
Es ging ein Jahr ins Land, in dem Schmidt sich recht wohl fühlte. Seine kleine Kanzlei bekam eine Anzahl recht belangloser Mandate, Mietrechtsstreitigkeiten, Verkehrssachen, Nachbarschaftsauseinandersetzungen. Sein wirtschaftliches Wohlergehen hing allerdings nach wie vor an dem Großmandat Mathias Wimmer. Das beträchtliche Vermögen Wimmers ermöglichte ihm, den Streit mit der Haushälterin und späteren Lebensgefährtin seiner Mutter immer weiter zu führen. So hatte Schmidt meist zwei dramatische Wimmer-Tage in der Woche. Ohne die Graseder mit ihrer trittsicheren Hausfrauenpsychologie hätte er das Mandat längst verloren. Es mutierte langsam zu einer Bearbeitung aller Traumata und persönlichen Defizite seines Mandanten. Der Tenor blieb immer derselbe: Mutterverlust, mehr noch Mutterverrat, Demütigung durch die frühere Haushälterin, Alleinerbin nach dem nun angefochtenen Testament. Die entmutigende Ineffizienz der deutschen Justiz war Garant dafür, dass die forensischen Bemühungen Schmidts im Fall Wimmer die Kanzlei auf weitere Jahre absicherten.
Schmidt dachte an die Tage am Grab seines Stiefvaters. Welche Kraft die Toten entwickeln konnten! Fast mehr, als sie zu Lebzeiten hatten. Niemand ist verschwunden, solange jemand an ihn denkt. Elisabeth Wimmer hatte ihren Sohn posthum an sich gekettet. Ein ergebener Sohn, der seine Banklehre absolvierte, ohne jemals den Willen zu zeigen, in einer Bank zu arbeiten. Seine Aufgabe erschöpfte sich im puren Sohnsein. Ein guter Sohn. Schmidt hielt ihn für homosexuell.
Während er die aussichtslosen, aber der Kanzlei ihr Überleben sichernden Schlachten und Scharmützel für seinen Schützling schlug, suchte er auf den vielen Kriegsschauplätzen einen zu finden, wo die vermeintliche oder mutmaßliche Erbschleicherin unterliegen musste. Das würde Genugtuung, seelische Aufhellung für seinen Mandanten bedeuten und ihm bessere Verhandlungspositionen einräumen. Sein berufliches Leben war angefüllt mit Psychologie und Theatralik. Sie wurde ihm reicher Gegenstand für seine Gedanken über das Leben generell und das der eigenen Familie im Besonderen. Zudem hatte sich Fabian seit ihrer ersten Begegnung in seinen Kalender gedrängt, alle paar Wochen tauchte er einfach auf, um seine Mutter abzuholen. Wohlweislich, bevor sie ihren Arbeitstag beendet hatte. Dann begrüßte er Schmidt höflich, um sich anschließend eingehend und ostentativ mit Shiva zu befassen. Der Hund hatte sich an ihn gewöhnt und schien ihn zu mögen.
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