Der Mantel - Roman
Frittieröl, die olfaktorischen Reste vergangener Nacht. Er bestellte ein Bier. Der erste Schluck war scheußlich. Warum tranken das so viele Leute und in solchen Mengen? Bitter, kalt, irgendwie abstoßend. Was war das mit der Graseder? Fabians Vater musste mit Unterhaltsentzug gedroht haben. Dann konnte er nicht in Südamerika sein, schloss Schmidt. Denn hier war Vormittag, also noch nachts in Südamerika. Aber aus welchem Grund befasst er sich mit ihrem Arbeitsplatz? Ein guter Arbeitsplatz bedeutete im Zweifel doch geringere Unterhaltszahlungen. Jedenfalls als moralische Verpflichtung. Warum griff er sie an diesem Punkt an? Ihr Leben schon einmal ruiniert? Was war vorgefallen, bevor sie zu ihm gekommen war? Warum der Zusammenbruch eben? Denn bisher war sie – jedenfalls in seinen Augen – immer stabil gewesen. Wollte der Anrufer, dass sie sich auf eine lukrativere Stelle bewarb? Mehr Geld selbst verdiente? Schmidts Unbehagen wuchs. Er zahlte natürlich nicht wie die Großkanzleien, konnte sich das auch nicht leisten. Mit der Graseder hatte er sich über die Jahre eingerichtet, diese Bequemlichkeit fühlte er plötzlich in Gefahr. Oder wollte der Kindsvater sie zu sich nach Lateinamerika holen? Würde Fabians Wunsch in Erfüllung gehen? Ist sie das Hindernis gewesen? Aber warum sollte sie das ihrem Sohn antun? Sie musste wissen, wie sehr er einen Vater vermisste.
Schmidt hatte sich nun an das Bier gewöhnt. Er entwickelte die These, dass der Siegeszug des Biers ausschließlich auf die Macht der Gewohnheit zurückzuführen war. Die Kneipe mit ihren ebenfalls gewöhnungsbedürftigen Gerüchen war wenigstens warm. Das erleichterte den Vormarsch des Alkohols in seinem Gehirn. Er musste mit der Graseder reden. Nicht nur das Arbeitsverhältnis gebot es. Auch seine Nähe zu Fabian. Er musste sie vor diesem Menschen, Fabians Vater, in Schutz nehmen. Er konnte schon noch ein paar Euros drauflegen. Auf jeden Fall musste er die Graseder halten, solange die Kanzlei das Wimmer-Mandat hatte. Ohne sie sähe es bitter aus. Nur, folgerte Schmidt, würde das ausgerechnet die so lange verteidigte Schranke zwischen Beruf und Privat wegschwemmen. Oder war das nicht gerade ohnehin geschehen?
Er bestellte das nächste Bier, ein kleines. Trotzdem kippte seine Helden- und Beschützerpose und machte einer tiefen Unruhe Platz. Irgendetwas war hier ganz und gar ungut, und er war nicht der Mann, der herkulische Taten zu verrichten imstande war. Wenn die wohlbehütete Distanz zwischen ihnen beiden schmolz, würde er sich wohl oder übel eine neue Mitarbeiterin suchen müssen. Was ihn das Kernmandat seiner Kanzlei kosten konnte.
Ein einstündiger Mittagsschlaf entspannte ihn nicht. Träume geisterten durch den bierdumpfen Schlaf. Eine Frau wurde verfolgt, bedroht von einer großen Gestalt, die immer näher kam. Sie rief ihm etwas zu, er meinte, Hilferufe zu hören. Das Tosen eines Sturms wehte ihre Schreie in den zerrissenen Himmel. Schmidt war unfähig, sich zu bewegen. Fühlte sich wie ein Insekt. Er konnte ihr nicht entgegenlaufen, konnte sie nicht retten. Er spürte grenzenlose Angst. Konnte mit größter Anstrengung nur die Arme in einer hilflosen Geste ihr entgegenstrecken. Seine Verzweiflung hatte ihre Ursache ebenso sehr in dem Anblick einer vergeblichen Flucht wie in seiner inneren und äußeren Lähmung. Heftig riss er die Arme auseinander und schmetterte die Nachttischlampe gegen die Wand, wo sie klirrend zu Bruch ging. Schmidt richtete sich ruckartig auf. Orientierte sich. Umständlich erhob er sich. Er schwitzte, fühlte sich noch teigiger als zuvor. Der Traum hatte ihm eine düstere Ahnung zurückgelassen. Und statt erholt zu sein, war er nun verzögert, als nähme er alles durch ein umgedrehtes Fernglas wahr.
Am Nachmittag liefen Schmidt und Shiva der schmelzwasserstarken Isar entgegen. Sie überquerten bei der Praterinsel mit ihrem der Großstadt entrückten Flair den schilfgrün prahlenden Fluss und richteten den Schritt stadtauswärts. Schmidt hatte schnell in der nassen Wiese einen Knüppel von Shivas Niveau gefunden. Unterarmlang und dick, schwer und hart. So sollten sie sein. Und doch: Die Würfe strengten Schmidt immer mehr an. Warf er mit aller Kraft, so spürte er wieder den bei schweren Gegenständen schon vertrauten Schmerz in der Handwurzel, sobald sich das unhandliche Holz aus seinem Griff löste. Ein kurzer heißer Moment im Zentrum der Hand und eine etwas lahme Schulter, dazu die gereizte Sehne, wenn er es
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