Der Mantel - Roman
sie jetzt mit Wimmer unterwegs war. Aus Mitleid? Neugierde? Ablenkung? Um etwas gutzumachen, indem sie sich für die Kanzlei als nützlich erwies? Wimmer wäre eine gute Partie, nun da er darüber nachdachte, eine sehr gute sogar. Das war nicht mal eben so bürgerlich, das war richtig wohlhabend. Nicht die kleinen Einkünfte Schmidts oder gehobenes Beamtentum wie bei seinem Bruder, sondern ein in einer Generation kaum auszugebendes Vermögen. Nett war er auch, mit ritterlichen Manieren und breiter Allgemeinbildung. Andererseits war er groß und unförmig. Seelisch leicht zu erschüttern. Von leicht aufbrechender Melancholie, zu Depressionen neigend. Psychisch auffällig. Das Verhältnis zur Mutter krankhaft.
Er tauchte aus seinen Gedanken auf und erschrak. Was ging es ihn an? Was gab es an Wimmer so heftig zu bewerten? Außerdem konnte sie, alle Absicherungsbedürfnisse berücksichtigt, nicht ernsthaft auf diese Idee kommen. Das konnte einfach nicht sein. Mitbekommen würde er es ja sowieso.
***
Er lacht bei der Erinnerung leise auf. Ja, Sabine war ihm seit dem Tag schon sehr durch den Kopf gegangen. Er nestelt mit starren Fingern, die sich aus der Spatenumklammerung kaum mehr lösen lassen, ein Zigarillo aus dem Mantel. Er ist so erschöpft, dass er sich mit einem Lungenzug aufzuputschen versucht. Der scharfe Rauch schneidet in seine Lungen, die Zellen des Gehirns öffnen sich erschrocken und lassen ihre Tagträume verschwinden. Der anschließende kleine Hustenkrampf ist verdient. Dass er nur jetzt keine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber so intensiv er auch die nun längst nachtvertrauten Augen schweifen lässt, die sich auflösenden Wege sind ebenso leer wie der von hier einsehbare Park. Schmidt zieht wieder gierig an dem Zigarillo. Die ersten beiden Züge haben ihn in einen rauschhaften Zustand versetzt. Ein Blick auf den Seesack erinnert ihn an seine traurige Aufgabe. Erneut ein Blick in das Loch vor ihm. Es muss wohl keine Spatenblattlänge mehr sein. Das sollte in einer Stunde zu schaffen sein. Offenbar kann man sich an jeden Zustand gewöhnen. Auch an Trauer. An Schmerz und ungewohnte Belastungen.
Der Tod ist so banal. Nur tatsächlich. Er ereignet sich. Alles andere geht weiter. Unmöglich, das zu verstehen. Aber das muss man auch nicht. Ihn nur akzeptieren, das ist alles. Mit dem Tod leben, bis er einen selbst erreicht. Schmidt versucht, in der kühlen Nässe der Nacht seine eigene Angst vor dem Tod zu spüren. Er denkt sich in den seelenlosen Körper in dem Seesack hinein. In die Kälte, wenn kein Blut mehr Wärme spendet. Wenn alles zerfällt, von keiner Lebenskraft mehr zusammengehalten. Es gelingt ihm nicht. Er empfindet tiefe Trauer über den Verlust. Keine Angst. Nur Alleinsein. Die immer noch unvollendete Aufgabe, das Erdloch vor ihm ist das nächste Ziel. Das Erreichen dieses Ziels wird ihm eine kleine, triviale Befriedigung verschaffen. Er schnippt das Zigarillo in den Aushub zu seiner Linken und packt erneut den immer schwerer werdenden Spaten.
***
Ungewohnt langsam legten sie den Weg zur Brücke und über den Fluss zurück. Die Lukaskirche auf der anderen Seite der Isar war nun dunkel. Unförmig und verbaut wirkte sie mit ihren gotischen Elementen, den Säulen, Türmchen und Wandeltreppen. Weiter ging es an den türkischen Änderungsschneidereien, Fair-Trade-Händlern von Tee und Gewürzen, den Yoga- und Fitnessstudios vorbei zu seiner Wohnung. Shiva bekam sofort einen halben Napf Futter. Schmidt hatte ihn an seiner Seite, als er sein Buch aufschlug. Die Sorgen um seine Gesundheit trübten seine Aufnahmefähigkeit. Und wie würde sich sein Arbeitsverhältnis mit der Graseder entwickeln? Wie sollte er mit seinem Bruder umgehen? Musste er ihn von sich aus ansprechen oder wartete er einfach auf dessen Anruf, der irgendwann erfolgen musste? Dringend allein war der Arztbesuch mit dem Hund, der zu seinen Füßen lag.
Sabine Graseder erschien am folgenden Tag in bester Laune. Ja, das Abendessen sei schön gewesen. Wimmer habe viel von sich und dem mondänen Leben der Mutter erzählt. Mehr war aus ihr nicht herauszulocken gewesen. Was hätte sie ihm auch sagen können? Schmidt hätte bestimmt alles falsch verstanden. Und es ging ihn nichts an, ob Wimmer ihr erzählt hatte, wie sehr er sein Leben auf die Bedürfnisse seiner Mutter ausgerichtet hatte. Jedes Buch gelesen, das sie euphorisch gelobt hatte. Jede Oper besucht, mit ihr zusammen – obwohl ihm die gesellschaftlichen Auftritte
Weitere Kostenlose Bücher