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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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zwischen Bäumen und spärlich genutzten Wegen und sagte mit unterdrückter Stimme: »So, Shiva, so«, und pinkelte in den kleinen Stadtpark. Er glaubte, er könne den Hund auf diese Weise inspirieren. Vielleicht war es aber auch nur eine Beschwörungshandlung, magisches Ritual oder Beweis männlicher Solidarität. Wobei Schmidt allerdings nervös nach links und rechts über seine Schulter schaute. Er vertraute nicht auf das öffentliche Verständnis für die Solidarität zwischen Herr und Hund.
    Ihre gemeinsamen Spaziergänge wurden intensiver und langsamer. Die Zeiten, die Schmidt nun wählte, zwangen ihn zu einem veränderten Tagesablauf. Früheres Aufstehen, Spaziergänge nach dem Abendessen, es wurden Begegnungen mit dem ersten und dem letzten Licht. Anfang und Ende, dachte er. Und die Wege waren verwaist, es gab selten Hunde, mit denen sich Shiva messen musste. Denn wenn er seine Kräfte für einen Zweikampf anspannte, vergaß er seine Schmerzen und trat an wie früher.
    So veränderten sich die Tage bis zum folgenden Mittwoch. Gewissheit ist ein Zustand. Er bedarf eben keiner äußeren Bestätigung. Und diese Gewissheit war in der Arztpraxis bereits eingetreten. Schmidt wusste um seine Gewissheit. Ihn irritierte, dass er bei Shiva dasselbe zu spüren meinte.
    Dann rief er natürlich doch an. Und tatsächlich war es so, wie der Arzt in seiner ersten Diagnose andeutete, auch mit den Metastasen hatte er recht behalten. Zu spät für eine Operation. Maßnahmen zur Linderung von Schmerz, Vermeidung großer Anstrengung – aber auch ein unabänderlicher und würdevoller Weg auf ein Ende zu. Ohne Verhinderungsstrategien, die aussichtslos waren und das verbleibende diesseitige Leben über Gebühr beeinträchtigten. So soll es sein, beschloss er.
    Fabian hatte sich für einen Spaziergang mit Shiva angemeldet. Seine Mutter musste ihm von der prekären gesundheitlichen Lage seines Lieblingstiers erzählt haben. Schmidt zögerte die Begegnung hinaus. Die Spaziergänge waren mittlerweile schwer planbar und spielten sich zu Zeiten ab, die sich für den Jungen nicht eigneten. Aber Schmidt wollte vor allem jedem Gespräch über das für ihn nun, jetzt wo er die Fakten kannte, noch schwierigere Vaterthema des Jungen aus dem Weg gehen. Also spielte er auf Zeit.
    Shiva hatte inzwischen für höchste Aufregung gesorgt. Eine Akte mit den Briefen von Wimmers Mutter war spurlos verschwunden. Als Wimmer auf bestimmte Briefe zu sprechen kam, musste Sabine Graseder ihn ablenken: »Die befinden sich gerade in der Archivierung«, sagte sie forsch. »In der Archivierung?«, fragte er fassungslos. »Das sind die Briefe meiner Mutter, für mich von unschätzbarem Wert. Und für das Verfahren sicher auch. Ich verlange sie zu sehen. Jetzt.« Die Graseder wusste genau, dass die Akte verschwunden war. Sie hatte fieberhaft danach gesucht, alles auf den Kopf gestellt. Schmidt hatte sie unter Druck gesetzt, panisch. Das war schon Tage her. Nun verkroch sich Schmidt, von der Druckwelle der aufgebrachten Posaune zwei Zimmer weiter getrieben, hinter seinem Schreibtisch. Er hoffte, Wimmer würde ihn mit dieser Kalamität verschonen.
    »Bitte, Mathias, wir haben die Briefe. Wir haben nur im Moment einen Studenten mit der elektronischen Archivierung beauftragt, und er muss sie dafür mitgenommen haben. Ich werde sie zurückverlangen.«
    Wimmer wurde nun noch lauter: »Frau Graseder, äh Sabine, ich bin empört. Ein Student liest diese Briefe? Zur Archivierung gibt Herr Schmidt sie aus den Händen? Das Herzstück unserer Sache? Meine höchst…«, hier versagte ihm die Stimme fast »persönlichen Angelegenheiten. Taktlos.« Und nach einer Luftholpause für die mächtigen Lungen, »verantwortungslos. Unprofessionell.«
    Schmidt, der geduckt hinter seinen Akten saß, war doppelt irritiert. Sabine? Mathias? Was war hier los? Ergebnis des Abends neulich? Was war passiert? Und – Archivierung? Wie konnte sie nur so einen Unsinn daherreden? Und wie kurzbeinig die Lüge war! Kein Wort wahr, noch nie hatte ein Dritter die Akten auch nur gesehen. Geschweige denn archiviert. Eigene Akten, Behördendokumente, ja, vielleicht, aber nicht höchstpersönliche, derart intime Schriftwechsel! Eine kleine Genugtuung beschlich ihn. Zwei Personen, zentral in seinem engen Universum, hatten hinter seinem Rücken Bande geknüpft, und nun stritten sie sich wie die Kesselflicker.
    Die Graseder schien keine weiteren Ausflüchte zu haben. Sie schwieg. Wimmer posaunte weiter: »Wo

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