Der Mantel - Roman
Behandlungsraum mit seinen Geräten um: »Kann ich – soll ich warten, bis er aufwacht?«
»Natürlich, er kommt jetzt in einen Nebenraum. Setzen Sie sich ins Wartezimmer.«
Doch statt sich ins Wartezimmer zu setzen, machte Schmidt einen Spaziergang, irrte planlos durch die Stadt. Es erinnerte ihn an ihren ersten gemeinsamen Anfang, das pinkelnde Häuflein in der Straßenbahn. An die vielen Spaziergänge, die folgten. Seine übergroßen Pfoten, die sein Wachstum schon früh ankündigten. Shivas Energie schien so grenzenlos. Jahre hatte der Hund sein Alleinsein nach der Trennung von seiner Frau gestaltet. Er hatte den mitfühlendsten, warmherzigsten Blick, den er je an einem Hund gesehen hatte. Er konnte Stunden still in einer Kneipe liegen, Rowdys am Isarufer wunderbar in Schach halten. Wie er die Jahreszeiten liebte. Wie er durch bauchhohen Schnee sprang und mit ganzem Maul eine Ladung Schnee schnappte, als müsste er ihn von einem geschlossenen riesigen Stück abbeißen – und das mit einer indischen Herkunft! Wenn er zu jeder Jahreszeit in die kleinen Begleitbäche der Isar sprang. Sich danach so heftig schüttelte, dass nur ein Abstand von Metern ausreichte, um trocken zu bleiben. Frauen gegenüber verhielt er sich wenig ritterlich. Sein robustes Anspringen oder rempelndes Vorbeirasen war nicht ihre Sache. Die Graseder war die einzige, die sich Achtung verschafft hatte. Seine Versuche, sie durch enges Umkreisen und lautes Bellen einzuschüchtern, waren schnell gescheitert. Sie hatte ihn einmal so angeschrien, dass er verwirrt auf der Stelle stillstand. Damit waren hier die Spielregeln geklärt, die Shiva bei Bettina und bei seiner Mutter zu seinen Gunsten selbst gesetzt hatte.
Und all das sollte plötzlich zu Ende sein? Schmidt konnte mit dem Gedanken nicht umgehen. So wenig wie mit der Annahme, dass es eine der typischen Männerkrankheiten sein sollte, der sein Hund zum Opfer fallen sollte. Es klang wie eine Vorankündigung für Schmidts eigenes Leben. Als ginge mir mein Hund voran, als zeige er mir mein Schicksal, dachte er. Schmidt fragte sich, wie es sein konnte, dass der mögliche Tod seines Hundes so viel tiefer auf ihn einwirkte, ihm mehr Schrecken bereitete als vor Jahren der sich ankündigende Tod seines Vaters. Seines dann Stiefvaters. Der Tod Karls war traurig, ja. Aber nicht so verwirrend schmerzlich wie jetzt diese Nachricht.
Er schaute kurz in eine der typischen Biereckkneipen, die er planlos passierte. Da saßen am frühen Nachmittag alkoholzerlaufene Gesichter, wächsern und bunt flackernd im Farbenspiel der Glücksspielautomaten hinter ihren Biergläsern. Ob sie wohl alle so eine Nachricht über die Erkrankung ihres Hundes erhalten hatten? Nein, das war anders. Einfacher oder komplizierter, aber anders. Er drehte sich in der Tür um und trat wieder auf die Straße.
Shiva war noch etwas benommen, aber wieder auf den Beinen, stand breitbeinig und etwas unbeholfen da und schenkte Schmidt einen unendlich klaren, ergebenen Blick. Der Arzt gab ihm eine Plastikdose mit Tabletten: »Gegen die Schmerzen. Wenn er beim Wasserlassen Probleme hat, geben Sie ihm eine am Tag. Mit dem Futter natürlich. Rufen Sie mich ab Mitte nächster Woche wegen der Befunde an.«
»Mitte nächster Woche?«, fragte Schmidt beunruhigt. »Ja, kann auch schon Montag sein, aber Mittwoch sind sie sicher da.«
»Verstanden. Muss ich sonst etwas beachten?«
»Bis dahin nichts. Viel Glück«, dabei klopfte er Shiva leicht lächelnd auf die kräftige Halspartie.
Sie gingen langsam zurück nach Hause. Für Schmidt hatte sich Shivas Gesichtsausdruck für immer verändert. Dieses unbedingte Vertrauen, die Hingabe, die aus dem Blick sprach, war nun untrennbar mit Schmerz verbunden. Aber auf eine Weise, als wollte er seinen Herrn nicht belästigen, nicht klagen. Und litte dabei immer. Unter Angst und Erkenntnis oder einfach nur unter einem nie weichenden Schmerz. Schmidt fragte sich, ob er das vorher nicht gesehen hatte oder ob der Ausdruck des Hundes sich durch die Krankheit wirklich verändert hatte, oder er den Schmerz hineinlas in einen Hundeblick, den zu verlieren er von dem Moment des Arztbesuchs an fürchtete.
Schmidt ging nun immer häufiger ganz früh oder ganz spät mit dem Hund aus. Das Wasserlassen war für Shiva offenbar zu einem schmerzhaften Vorgang geworden. Oft stand der Hund da und krümmte leicht den Rücken mit gehobenem Bein, ohne dass etwas passierte. Dann stellte sich Schmidt in einen günstigen Winkel
Weitere Kostenlose Bücher