Der Mantel - Roman
schwergefallen waren. Immer wurde er vorgeführt als ihr Begleiter, wie ein Lebenspartner. Er hatte geglaubt zu spüren, wie die Leute ihn belächelten, bedauerten.
An seinem Schreibtisch sitzend, schweiften Schmidts Gedanken ab. Vielleicht hatte Wimmer sich der Graseder geöffnet, vollständig und rückhaltlos. Sie mit einem Schwung in sein Leben gezogen. Ein Leben im Glanz und doch so glanzlos vollkommen allein. Vielleicht hatte ihr nie jemand dieses Vertrauen vorher geschenkt. Schmidt, für den sie da war, hatte sie immer von sich fern gehalten. Seine ewige Bemühung, in der Arbeitssituation den richtigen Abstand zu halten.
Wimmer hatte Sabine Graseder tatsächlich einen Abend lang hofiert. Bei der Begrüßung in dem teuren Restaurant, dessen Wände mit samtigem Stoff bezogen waren, hatte er ihr einen Handkuss gegeben. Einen Handkuss. Der erste in ihrem Leben. Es fühlte sich gut an. Die Kellner kannten ihn. Sie kannten seine Vorlieben. Er hatte ihr durch die ungewohnte Menükarte geholfen und mit ihr ausgesucht. Selbst während des Dinners hatte er ihr die Gedanken von den Augen abgelesen. Als hätten die Jahre der Schulung mit seiner Mutter und die folgenden Jahre bitterster Enttäuschung eine Kraft aufgestaut. Die Kraft, eine Frau mit Aufmerksamkeit und Verehrung zu umfangen wie mit einem schmeichelnden Umhang. Immer wieder hatte er sie gefragt, ob er sie nicht langweile. Wenn sie aufstand, sprang er auf, wie auch, wenn sie an den Tisch zurückkehrte. Wenn er etwas betonte, legte er seine Hand leicht auf die ihre. Und trotz dieser Offenheit und Intensität machte er keinen Versuch, in sie zu dringen. Er ließ sie entscheiden, ob sie von sich erzählen wollte. Was sie vermied – bis auf Fabian, von dem sie berichten wollte. Er nahm Anteil, erkundigte sich. Er äußerte Ausbildungsideen – von Summer Camps in England bis zu späteren Studienideen. Sie verhielt sich vorsichtig. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie genoss seine Ritterlichkeit und seine entwaffnende Offenheit und Hingabe. Und während Wimmer erzählte mit all der Kraft seiner Bilder und der teure Wein seine Wirkung tat, überlegte sie, ob sie mit ihm zusammen sein könnte. Sie war sich unsicher. Natürlich würde sie mit Wimmer ein beneidenswertes Leben haben. In den schönsten Umständen. Unter Bedingungen, die ihr bisher nur aus Illustrierten bekannt waren. Und sie würde geliebt und auf Händen getragen werden. Auch das war ihr noch nie begegnet.
Während Schmidt seinen Gedanken nachhing, hatte die Graseder einen Arzt für Shiva ausfindig gemacht und einen Soforttermin vereinbart. Der Gang mit Shiva zum Tierarzt war beschwerlich, obwohl die Praxis nur wenige Straßen entfernt war. Shiva ging wie blockiert. Er trottete, als könnte er die Läufe nicht richtig strecken. Und er war auf eine sanfte, dunkle Weise anhänglich. Der Arzt betäubte ihn leicht und tastete den Hund ab. Er konzentrierte sich bald auf seinen Unterleib. Schmidt dachte, dass so ein lebendiges, kräftiges Tier nicht auf eine solche Bahre gehörte. Es passte nicht zusammen. Noch eine Spritze. Ultraschall, Gewebeproben. Der Arzt schaute Schmidt forschend an. »Wie lange haben Sie ihn?«
»Wieso? Also ich denke neun Jahre. Er kam sehr jung aus Indien zu mir.«
»Aus Indien? Er ist immer bei Ihnen?«
»Ja sicher«, sagte Schmidt ungeduldig. »Aber warum die Fragen?«
»Nun, ich habe noch keinen klaren Befund, wir müssen die Gewebeproben abwarten. Aber es könnte sein, dass der Hund Prostatakrebs hat. Und dass die Krankheit in einem fortgeschrittenen Stadium ist. Es gibt möglicherweise Metastasen in anderen Organen.«
Schmidt hatte einen staubtrockenen Hals: »Wie wahrscheinlich ist das, was Sie sagen?«
Der freundliche grauhaarige Mann mit dem fürsorglichen Gesicht antwortete langsam. »Wie gesagt, erst die Laborbefunde geben Klarheit. Ich wollte Sie nicht unnötig beunruhigen. Es ist nur eine erste Vermutung.«
»Und was wäre zu tun, wenn Sie mit Ihrer Vermutung recht behielten?« Eine ihm unbekannte, dumpfe Angst stieg in Schmidt auf, seine Stimme kam mechanisch wie eine Computeransage.
»Wenig. Wir können Schmerzen lindern. Operationen haben im fortgeschrittenen Stadium meist wenig Sinn.«
Schmidt wollte keine weiteren Fragen stellen. Vor allem nicht die der zu erwartenden Lebensdauer. Man musste die Untersuchungsergebnisse abwarten, dann weitersehen. Shiva lag noch auf einer Bahre, betäubt. Schmidt schaute sich hilfesuchend in dem
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