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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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frei oder schnappte in seiner Verzweiflung gar zu. Er musste extreme Qualen leiden. Schmidt hatte schon an einen Korb gedacht, in dem er Shiva die Treppen hinunter zum Spaziergang transportieren konnte.
    Fabian hatte genickt, und sie waren schweigend die Treppenstufen hinuntergegangen, bis sie endlich die Haustür erreichten. Nun ging es leichter, Shiva trottete den gewohnten Weg zur Isar herunter. Schmidt musste ihn nicht anleinen, zu schwerfällig war der Schritt des einstigen Kraftpakets geworden.
    Fabian konnte nicht länger an sich halten: »Was genau hat Shiva?«
    »Er hat Prostatakrebs.«
    »Ist das sehr schlimm?«
    Verrückt, dachte Schmidt. Wie der Bub heute zurückgekehrt ist zu seinem wahren Alter. Nicht mehr jenes altkluge Schwadronieren, das dem Leben mit der alleinerziehenden Mutter geschuldet war. Die vorlauten Spekulationen, die dem Alter unangemessenen Kommentare – das alles war auf einmal abgefallen wie ein unpassendes Kostüm. Zum Vorschein kam das bange, von den unerbittlichen Mühlsteinen des Lebens bisher unberührte Wesen eines Heranwachsenden. Und dieses Wesen schaute entsetzt erstmals auf das Ende eines Lebens.
    Wie ein Schauspieler auf der Bühne, der plötzlich die Schlussszene spielen muss, ging es Schmidt durch den Kopf. Wir stehen in jeder Lebensphase auf einer für uns errichteten Bühne und spielen das Stück, das unserem Reifegrad und der Kulisse angemessen ist. In bestimmten Momenten überschlägt sich alles und wir sehen die Kulisse des folgenden Lebensabschnitts. Meist geschieht dies in Situationen der Krise, Not oder Bedrohung. Es tritt auch in großen Glücksmomenten ein, wenn wir aus uns heraustreten, dachte Schmidt weiter. Fabian lebte eng mit seiner Mutter, ohne Geschwister und vor allem auf Erwachsene bezogen. So war für ihn der Zugang zur Erwachsenenwelt viel zu früh geöffnet. Was er da sah, zog ihn an und er imitierte das Verhalten derer auf der nächsten Bühne. Da befand sich seine Mutter, und er versuchte, wie sie zu sprechen, sich so zu geben. Sah keinen Reiz an der Bühne der Heranwachsenden, noch viel weniger der der Kinder. Nein, er stand dort, wo man Dinge verstand und nur noch kluge Fragen stellte. Und nun bekam er einen Blick auf die letzten Szenen. Dahinter musste alles schwarz sein. Keine Orientierung, keine Anhaltspunkte im Vergehen, nur dunkle Leere.
    Von dem, was sich da abspielte, konnte der Junge keine Ahnung haben. Schmidt hatte viel über den Tod nachgedacht. Er hatte eine Vorstellung. Und jetzt, da Shiva in den Sog der Krankheit geraten war, hatte er wieder gelesen. Kübler-Ross, tibetisches Totenbuch. Er hatte Halt gesucht in seiner Ratlosigkeit. Im Zentrum des Sterbens ein heller, gleißender Lichtpunkt. Strahlend hell und magnetisch. Dort würden sich die Augen hinwenden im Moment der Loslösung, verharrend im Licht. War es sein Wesen, das vom Leben nicht das beste Ergebnis erwartete, oder eine sichere Ahnung – er fühlte, dass er nicht einmal viel Zeit hatte, die bevorstehende Trennung von seinem Lebensgefährten anzunehmen. Shiva hingegen, so glaubte er, hatte die andere Seite schon gesehen, führte einen mannhaften Kampf um jede Bewegung, jede vitale Äußerung. Ob er die Spaziergänge nur noch unternahm, um Schmidt zu beruhigen?
    Der Junge, der so tief erschrocken war beim Anblick des letzten Akts, riss ihn aus seinen Gedanken: »Ich wollte wissen, wie schlimm das ist.«
    »Oh Gott, ja, Fabian. Entschuldige. Es ist sehr schlimm. Weil es sich ausbreitet in seinem Körper.« Er legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.
    »Wird er …«, die Stimme war nun kaum vernehmbar, »wird er wieder gesund?«
    »Das wünsche ich mir sehr. Sehr. Aber es steht nicht gut. Ich erspare ihm alle grausamen Behandlungen. Die Natur soll entscheiden.« Als wollte er es kommentieren, setzte sich Shiva noch vor Erreichen der Straße, die sie vom Flussufer trennte, erschöpft hin. Schmidt streichelte den breiten Schädel, da fragte Fabian ihn erneut: »Du meinst, Shiva …« die leisen Worte versiegten.
    »Ich meine gar nichts. Wir werden noch lange mit Shiva an der Isar wandern oder bald nicht mehr, Fabian. Mehr weiß ich auch nicht. Ich genieße jeden Tag mit ihm.« Das sollte abschließend klingen. Shiva hatte nun, auf der Parkseite des Flusses, einen armdicken Ast angeschleppt. Er warf ihn förmlich vor Fabian ab, die Augen fest auf den Jungen gerichtet. Der wandte sich fragend zu Schmidt um. Schmidt nickte nur. Fabian warf halbherzig, keine zehn Meter.

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