Der Mantel - Roman
Shiva versuchte zu rennen. Er erreichte den Knüppel und stand kurz vor ihm, den Kopf gesenkt, Schwanz zur Seite abgebogen. Die beiden beobachteten ihn gespannt. Dann schien er zu Kräften gekommen. Er nahm das Holz auf und trottete langsam zurück. Kurz vor den schweigend Wartenden erhöhte er das Tempo. Sie gingen langsam weiter, um ihm Zeit zur Erholung zu geben.
Erneut brach Fabian das Schweigen: »Du wirst nicht weg sein?«
»Wie meinst du das? Ich bin hier, ich bleibe hier.«
»Ich will dich nicht verlieren.« Der Junge schaute auf den Kiesweg, nur seine Hand legte sich kurz unbeholfen auf Schmidts Arm.
»Natürlich nicht. Wieso solltest du mich verlieren?«
»Du gehst auch nicht nach Südamerika.«
»Nein. Ich gehe nicht nach Südamerika.«
Die Stimmung des Jungen, der zum ersten Mal vor einem bitteren Abschied stand, rührte ihn zutiefst. Er sieht nun die letzte Szene, dachte Schmidt. Er wollte das Thema wechseln, fühlte sich selbst den Tränen nahe. Das ging nun gar nicht. »Lass uns umkehren.« Aufmunternd sollte es klingen.
»Und was ist mit dem Herrn Wimmer?«
Fabians Frage traf Schmidt unvorbereitet: »Mit Herrn Wimmer? Du kennst ihn?« Die Beiläufigkeit der Gegenfrage war gründlich misslungen.
»Mama hat ihn mir vorgestellt. Er wollte, dass ich ihn duze.«
Schmidt nahm Shiva den mitgeschleppten Stock ab. Zeit gewinnen. Er warf ihn mit halber Kraft. Shiva lief los, mit aller ihm zu Gebote stehenden Energie, als bewegte er sich durch tiefen Schnee. »Und du, was hast du gesagt?«
»Er gehört nicht zu meiner Familie.«
Schmidt verkniff sich den Sarkasmus eines trockenen ›Stimmt‹, es lag ihm auf der Zunge: »Nun, er ist ein sehr netter Mann!«
»Aber was will er von Mama?«
»Keine Ahnung. Sie kennt ihn aus der Arbeit. Bestimmt findet sie ihn nett.«
Was sollte das? War da doch was mit Wimmer? Schmidt spürte etwas heiß in sich aufsteigen. Wie konnte sie das tun? Sie war doch auch bei ihm abgesichert. Klar, nicht so. Aber diesen neurotischen Muttersohn? Der vielleicht homosexuell war? Das musste sie doch spüren. Er, Schmidt, war doch ihre emotionale Heimat. Das hatte sie ihm schließlich selbst gesagt! Konnte sie so berechnend sein? Konnte er sie in seiner Kanzlei behalten, als zukünftige Frau des Kernmandanten? Schmidt schüttelte sich. In diesem Fall müsste er die Kündigung aussprechen. Hatte er die Karten in diesem Spiel in der Hand? Würde sie gar ihm kündigen? Herrgott, gehörte sie nicht einfach zu ihm? Sie war jung, dachte klar und war ihm so sehr vertraut. Und er hatte erst in den letzten Monaten festgestellt, dass sie richtig attraktiv war.
Er wischte die Gedanken beiseite, sie halfen ihm jetzt gar nicht weiter. Und er hatte offenbar mit seiner unklaren Art alle Chancen, sie für sich zu gewinnen, vertan. Wenn er das denn überhaupt gewollt hatte. Genug davon.
Fabian schien auch nachgedacht zu haben: »Ich weiß ehrlich nicht, was Mama an ihm so nett finden kann.«
Schmidt schämte sich für den Satz, den er eher zu sich selbst gesagt hatte. Dem Jungen, der zu allem Überfluss nicht einmal wusste, dass er sein Neffe war, war mit diesem Satz schlecht gedient. Aber was sollte er sagen, fragte sich Schmidt.
Fabian schaute auf Shiva, der angestrengt neben ihm her trottete. Plötzlich brach er in Tränen aus. »Mama weiß doch, dass ich nur sie habe.« Er drehte den Kopf weg, die Stimme ertrank in seiner plötzlichen Verzweiflung.
***
Schmidt meint, in der Stille der Nacht einen Automotor zu hören. Er blickt von seiner verbissenen Grabung auf. Tatsächlich, nicht weit entfernt kriechen zwei Scheinwerfer den Uferweg entlang. Durch den schwachen Regen sieht er sie verschwommen näher kommen. Ein rascher Blick zur Seite, nein, hinter den Baum zu springen, könnte zu spät sein. Er sinkt auf die Knie und lässt sich nach vorn in die Grube fallen. Mit den Händen, die in das nasse Erd- und Steingemisch greifen, fängt er seinen Oberkörper ab. Den Kopf hatte er geistesgegenwärtig zur Schulter gedreht, sonst wäre er an der Böschung des Aushubs aufgeschlagen. Die Nase in der feuchten Erde, versucht er, sich mit seiner Lage vertraut zu machen. Die kleinen Steine unter seinen Händen drücken in die Handflächen, die Beine ragen aus dem Loch heraus. Rasch zieht er die Knie an und dreht sich halb auf die Seite. Nun liegt er vollständig, wenn auch verkrümmt, in Shivas Grab. Den Spaten hatte er zur Seite geworfen, wenigstens der stellt kein weiteres Hindernis dar. Wie
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