Der Mantel - Roman
nicht die Wahrheit gesagt hatte. Zwei Wochen kostete es die beiden, bis das Thema aus ihren Gesprächen mit Wimmer gestrichen war. Sie hatten ihm nun garantiert, dass seine Dokumente von nun an permanent unter Verschluss in Schmidts Tresor waren.
Schmidt war darüber nicht unglücklich. Für ihn hatten die verwirrten, um bizarre Emotionen flatternden Schriftstücke schwarzmagischen Charakter. Sie waren zum Menetekel für den hinterbliebenen Sohn geworden und ihre Kraft schien durch den jahrelangen Abstand und den Tod der Autorin nur unwesentlich geschwächt. Wer sich ihnen zu weit näherte, sich auf sie einließ, mochte mit der Trübung seines Verstandes bezahlen – wie es der Autorin scheinbar selbst ergangen war. Im Stahlschrank, in für das Auge undurchdringlicher Dunkelheit, mochten sie unschädlich sein. Das jedenfalls hoffte der sonst so intellektuell distanzierte Schmidt.
Shiva trug sein zunehmend schweres Schicksal mit großer Würde. Die Tabletten schienen zu helfen. Er konnte sich bewegen, aber er rannte nur, wenn er sich vergaß. Meist blieb er stehen, wenn er der Apportieraufgabe nicht mehr gewachsen war. Dann schaute er Schmidt nur melancholisch an, wedelte entschuldigend mit dem aufgerichteten Schwanz und atmete hechelnd. Schmidt klopfte ihm beschwichtigend auf die Halspartie. Die Krankheit musste ihn ungeheuer viel Kraft kosten. Shiva ging steifbeinig, als fehlte ihm der Gleichgewichtssinn. Schmidt übersah das und ermunterte ihn zum Laufen. Mit gemischtem Erfolg. Wille und Kraft schienen gleichzeitig und gleichermaßen zurückzugehen trotz der mittlerweile fast ständigen Gabe von Stärkungs- und Schmerzmitteln.
Darum entwickelte sich der nächste Spaziergang mit Fabian zu einem Planungsproblem. Endlich gab es einen Tag, an dem Schmidt den Hund am Nachmittag für fit genug hielt für den langen Weg vorbei am Deutschen Museum. Er hatte die Graseder gebeten, ihren Sohn anzurufen. Kurz darauf tauchte er auf. Seine Mutter hatte ihren Arbeitstag beendet. Shiva begrüßte ihn freudig. Er konnte nicht mehr an dem großen Jungen hochspringen. So bellte er, wedelte heftig und drückte den mächtigen Schädel an seinen Schenkel, Fabian kraulte wie wild sein Fell. Schwerfällig glitt der Hund zur Seite, um sich den Bauch streicheln zu lassen. Fabian erschrak, als er den geschwollenen Unterbauch sah. Verstohlen musterte er den Körper des Hundes, als könnte ihn Shiva dabei ertappen. Seine Hand strich behutsam über den spitzen Brustkorb und glitt zu den Flanken mit ihrer unförmigen Verdickung herunter. Shiva zuckte nur kurz und winselte leise, ohne sich jedoch zu entziehen. Er hob den Kopf und versuchte, die Hand zu lecken, als wollte er Fabian ermuntern, sich nicht abbringen zu lassen. Mit einem Lächeln, traurig verzerrt, wiederholte der Junge die Bewegung. Er murmelte ein ums andere Mal »Shiva, Shiva, Shiva«.
Schmidt hatte schweigend am Ende der Diele gestanden, vor seinem Arbeitszimmer, wie abwesend, als wollte er sich wieder umwenden und zu seinen Akten zurückkehren. Nun trat er rasch an den Knienden heran, strich ihm über die Haare und sagte leise: »Komm, wir gehen.« Fabian blickte zu ihm auf, die kräftig blauen Augen schwammen.
Schmidt nahm die Leine und öffnete die Tür. Shiva erhob sich schwerfällig und trottete voran. Die zwei Stockwerke treppab bereiteten ihm sichtlich Mühe. Er versuchte, den Körper längs der Stufen zu bewegen, um den Unterleib nicht einknicken zu müssen. Fabian schaute auf den unbeholfenen Gang seines Lieblingsgefährten. Nie hatte er ihn auch nur zögern gesehen, eine körperliche Herausforderung meiden. Es war der Zusammenbruch eines Weltbilds. Und es war die erste Begegnung mit dem Tod. Fabian betrachtete den Hund mit einem mitleidig weichen Blick. In seinem Gesicht stand aber auch Abwehr und Angst. Als sehe er eine unbekannte Naturgewalt im Körper des Tieres. So beunruhigt und entfremdet tappte der Junge hinter dem Hund her. Er suchte kurz den Blickkontakt mit Schmidt: »Soll ich ihn runtertragen?«
Schmidt versuchte, unbefangen zu antworten: »Lass nur, Fabian, er ist eine Nummer zu schwer für dich. Er wiegt über zwanzig Kilo. Und solange er sich so bewegen kann, ist es ihm bestimmt auch lieber, auf den eigenen Beinen zu stehen.« Er wollte nicht hinzufügen, dass es unmöglich war, den schweren Hund zu tragen, ohne Druck auf den Unterleib auszuüben, was zu heftigen Schmerzen führte. Dann strampelte sich der Gequälte unter noch größeren Schmerzen
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