Der Mantel - Roman
ist Rechtsanwalt Schmidt?«
Sie klang ungewöhnlich schwach: »Ich weiß nicht, ob er in seinem Büro ist.«
Wimmer war überraschend aufgetaucht und hatte sich für sein Thema erst die Graseder ausgesucht. Schmidt hätte unentdeckt bleiben können. Aber nun stöhnten die Dielen unter der Last des heranwogenden Gewichts. Kein Entkommen, Schmidt musste sich stellen.
»Herr Rechtsanwalt. Ich höre, Sie lassen Archivierungen meiner höchstpersönlichen Dokumente durch Dritte durchführen. Indiskrete Dilettanten. Wollen Sie mir das erklären, oder muss ich Sie auf Ihre Berufspflichten hinweisen?« Schmidts Zimmer mit seinen vielen Akten, den zwei Schränken und den gerahmten Abbildungen seiner Lieblingsphilosophen schien zu schwingen von der raumgreifenden Klage. Ruhig bleiben, einfangen.
»Lieber Herr Wimmer, ich bin gerade etwas überfragt. Wir suchen eine Akte mit den bedeutsamen Briefen Ihrer Frau Mutter? Die Archivierung, die wir hier nicht zuletzt im Interesse unserer Mandanten durchführen, ist ein völlig getrennter Vorgang. Die betreffende Assistenzperson ist sehr zuverlässig, hat aber auf diese Dokumente keinen Zugriff gehabt. Diese Unterlagen verwahre ich höchstpersönlich. Ich bin allerdings nicht ganz sicher, wo ich das so wichtige Konvolut momentan habe. Seine Wiederauffindung steht aber völlig außer Zweifel.«
Es schien gewirkt zu haben. Wimmer erwiderte in nun nur noch drohendem Ton: »Was Sie sagen, beruhigt mich nur oberflächlich. Ich bin nicht sicher, wie das mit Frau Graseders Erklärung zusammenpasst, aber ich vertraue Ihnen. Ich erwarte allerdings, dass Sie mir morgen die erfolgreiche Lösung dieses Problems melden können.« Er warf noch einen machtvollen Blick auf den hinter seinem Arbeitstisch zusammengesunkenen Schmidt. Dann drehte er verblüffend behände auf dem Absatz um und stürzte Richtung Ausgang. Als er das Sekretariat passierte, rief er mehr feststellend »Sabine!« in den Raum, dann fiel bereits die Tür ins Schloss.
Schmidt erhob sich aus seiner Deckung und ging in Frau Graseders Büro vor. »Was sollte das denn? Sie können mit ihm tun und lassen, was Sie wollen. Aber die Archivierungsgeschichte war ein böser Fehler. Und eine schlechte Idee obendrein. Wir würden das doch nie machen, derartige private Dokumente außer Haus zu geben!«
Das Gesicht über der lachsfarbenen Bluse war bleich. »Entschuldigung. Das war ein totaler Fehlgriff. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Mein Kopf ist woanders. Ich konnte ihm doch auch nicht sagen, dass ich nach drei Tagen Suchen auf allen Stapeln und in allen Schreibtischen und Schränken ratlos bin. Tut mir leid, blöde Idee.«
Schmidt schaute sie verblüfft an. Selten war sie so schonungslos selbstkritisch. »Gut. Passiert ist passiert. Wichtiger ist, dass wir dies Text gewordene Melodram wiederfinden.«
Es dauerte zum Glück nur weitere 24 Stunden, bis die Putzfrau, die nur einmal in der Woche ganztägig kam, ihren großen Fund unter einem Bauernschrank im Wohnzimmer machte. Die Handakte mit den Briefen war angekaut, sah ziemlich mitgenommen aus, hatte an einer Ecke etwas Stoffartiges. Beim behutsamen Trennen der einzelnen Blätter der Briefe zeigte sich jedoch, dass ihre Leserlichkeit kaum gelitten hatte. Schmidt ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie sogar als Objekte schöner geworden waren. Die herrisch aufgerichtete, altdeutsche Schrift der alten Dame, die bunten, aufgeregten Unterstreichungen und Anmerkungen ihres Sohnes und dann, am unteren Rand, eine textile Qualität – das alles hatte jetzt etwas Beruhigendes, gleichmäßig Gekautes. Schmidt war auf gewisse Weise stolz auf Shiva. Er schimpfte ihn zwar, hielt ihm die Handakte vor die Nase, aber der Hund musste spüren, wie lasch die Schelte war. Schmidt sah es ihm nach. Er hatte noch nie Akten entwendet. Diese aber verschleppt und angefressen. Kaum vorstellbar, dass er dabei wahllos vorgegangen sein sollte. Als wüsste der Hund, wie sehr Wimmer ihm ein Gräuel war. Schmidt schrieb dem Tier nicht nur wegen seines Götternamens besondere Fähigkeiten zu. Die Disziplinlosigkeit des Hundes wog weniger schwer für Schmidt als dessen feines Gespür für den Umstand, dass diese Briefe sein Herrchen irgendwie belasteten – und das schon vor der ungeklärten Beziehung des Kernmandanten mit seiner Sekretärin.
Wimmer brauchte eine Weile, bis er die Fassung wiedererlangte. So erleichtert er nach dem Fund der Briefe war, so empört war er, dass Sabine Graseder ihm
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