Der Mantel - Roman
Bedürfnis, mit dem Bruder abrechnen zu müssen, war wenige Tage nach der Enthüllung der Graseder verflogen. Alles war so festgefahren. Nicht einmal für Fabian wäre es eine Verbesserung, wenn er diesen Vater kennenlernen würde, dachte Schmidt. »Wenn das dein Wunsch ist, klar. Wann wollen wir uns treffen?«
»Wie? Ich habe um das Gespräch gebeten. Du wählst die Umstände, gut?«
Schmidt hatte eine verrückte Idee. Zu dramatisch, dachte er sofort. Aber da war es schon heraus. »Lass uns einen Spaziergang machen. Zu Papas Grab. Am Ostfriedhof. Ich weiß nicht, wie oft du da warst, aber es ist sehr schön.«
»Einverstanden. Wann?«
»Übermorgen. Ich muss Shiva zum Arzt bringen, dann haben wir ein paar Stunden am Nachmittag. Geht das?«
»Ich werde es möglich machen.«
»16 Uhr, Eingang Friedhof, der Haupteingang.«
»Ich werde da sein. Danke Uli. Und viel Glück für Shiva.« Da hatte er schon aufgelegt. Schmidt war perplex. So befremdlich. So offen. Sogar den Namen des Hundes hatte er sich gemerkt. Das würde ein interessantes Gespräch werden.
Shiva war am nächsten Tag schwächer als an den vorangegangenen Tagen. Er musste sich überanstrengt haben aus Freude, Fabian gesehen zu haben. Der morgendliche Ausgang war ein Kampf um jeden Schritt, und das Wasserlassen schien eine schwer überwindliche Anstrengung zu sein. Da sie etwas spät dran waren und die ersten Radfahrer durch den Park sausten, unterließ es Schmidt, ihm mit gutem Beispiel voranzugehen, ein Ritual, an dem er sonst größte Freude hatte.
Als Sabine Graseder die Wohnung betrat, saß Schmidt schon an seinem Schreibtisch. Die Akten mit dem Kündigungsschutzverfahren einer Familie aus der Nachbarschaft konnten seine Aufmerksamkeit nicht fesseln. Sie hatte nur kurz den Kopf hereingestreckt und ein helles Hallo gerufen, dann war sie verschwunden, um für beide Kaffee zu machen. Er folgte ihr in die Küche. Sie sieht hübsch aus, dachte er. Sie machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, das kräftige Haar war ihr ins Gesicht gefallen. Sie schien das Gespräch nicht zu suchen.
Schmidt räusperte sich: »Shiva hat sich sehr gefreut über den Besuch von Fabian gestern. Aber er hat mir leid getan. Er hat geweint.«
»Ja«, sagte sie und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, um ihn gerade anzuschauen, »er war so traurig, als er zurückkam. Wir haben uns vielleicht schon mehr daran gewöhnt.«
»Das sicher nicht«, erwiderte Schmidt distanziert.
»So habe ich es nicht gemeint, Ulrich, das wissen Sie«, verteidigte sie sich rasch. War es ein plötzliches Gefühl der Nähe wegen Shivas Zustand und der intensiven Verbindung, die sich inzwischen zwischen Schmidt und Fabian aufgebaut hatte, oder warum nannte sie ihn beim Vornamen?
Er platzte mitten in die kurze Stille: »Morgen treffe ich meinen Bruder.«
Sie setzte das Milchkännchen hart auf: »So? Für was?«
»Er war es, der mich um ein Gespräch gebeten hat. Es geht wohl auch um Sie dabei.«
Sie schien sich von innen zu krümmen und ihr Blick bekam etwas Lauerndes, was er noch nie an ihr gesehen hatte. »Was heißt‚ ›es geht auch um mich‹?«
Irgendwie genoss er das Gefühl, sie derart angespannt zu sehen. Denn in letzter Zeit hatte er sich ihr gegenüber zu oft schwach, unterlegen gefühlt. Sie beherrschte das Verhältnis zu Wimmer und, so kam es ihm vor, damit auch ihn. »Was weiß ich? Franz war sehr freundlich und bat um eine Aussprache. Dabei nannte er Sie als Thema. Ohne weitere Erklärung.« Es sollte so neutral klingen, wie von einem Nachrichtensprecher.
»Aber Ulrich, ich meine, Herr Schmidt, was wollen Sie beide denn über mich reden? Franz kann nicht viel über mich sagen. Er kennt mich eigentlich nicht näher. Wenn er mich überhaupt je kannte. Und Sie sollten nichts mit ihm über mich reden. Gar nichts. Ich will nicht, dass er jetzt über Sie wieder in mein Leben eindringt.« Sie stand aufgebracht vor ihm mit blitzenden Augen, deren goldenen Kranz um die Pupille er zuvor noch nie gesehen hatte.
Schmidt wich einen Schritt zurück und erwiderte: »Immerhin ist er mein Bruder. Sie können darauf vertrauen, dass ich nicht indiskret sein werde. Ihre Privatsphäre bleibt völlig geschützt. Und ebenso das«, setzte er nach kurzem Überlegen fort »was wir hier als Kanzlei zusammen machen. So weit müssten Sie mich doch kennen, oder? Und bisher war ich es ja, der immer nur die Hälfte wusste.«
Sie war noch immer beunruhigt: »Das hat mit meiner Entscheidung, für
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