Der Mantel - Roman
dich andere Regeln als für mich. Nichts ist eben gleich.«
Sie standen eine Weile schweigend vor dem schwarzen Stein. Nur die Geräusche von Gartenarbeit, irgendwo verborgen hinter Bäumen und Grabsteinen, drangen zu ihnen herüber. Zwei in sich versunkene Männer. Es war, als schlösse sich hier ein Kreis. Als hätte Karl lange nach seinem Tod an seiner letzten Ruhestätte vollbracht, wonach Eltern ab einem gewissen Moment trachten: das Verständnis, die Versöhnung ihrer Kinder untereinander. Eben durch gegenseitiges Anerkennen der persönlichen Unterschiede und der Anstrengungen, die Eltern unternommen haben, um genau diesem Umstand gerecht zu werden. Franz und Ulrich hingen ihren Gedanken nach; Kindheitserinnerungen, Tränen, Momente der Freude. Ulrichs Worte hatten nichts grundlegend verändert. Aber sie hatten die Bedeutung so vieler gemeinsamer Jahre, diesen riesigen familiären Fundus beschworen. Und die Bedeutung der Mühen, die ihre Eltern dafür unternommen hatten.
Franz war betreten. Sein Vergleich der ihnen zuteil gewordenen Liebe und Aufmerksamkeit kam ihm wohl nicht mehr besonders wichtig vor. Er schaute seinen Bruder mit dem zurückweichenden Lockenschopf und dem weichen Gesicht an: »Und wer ist dann dein leiblicher Vater?«
Ulrich winkte nur kurz ab: »Das ist eine andere Geschichte. Das gehört jetzt nicht hierher.«
Franz nickte mit hochgezogenen Augenbrauen. Er schaute wieder auf den Grabstein. Einen Schritt vor, und er berührte mit der rechten Hand leicht den Stein. Er senkte den Kopf wie zur Andacht und verharrte einen Moment in dieser Haltung. Schmidt beobachtete ihn aufmerksam. Sein Bruder hatte sich schon wieder dem Weg zugewandt. »Ja, wir gehen weiter«, sagte er, »deine anderen Themen willst du sicher nicht in Karls Gegenwart diskutieren.« Sie gingen eine Weile schweigend, bedächtig. Die wenigen alten Menschen, die hier mit ihrer Vergangenheit und Zukunft gärtnerisch tätig waren, nahmen nun keinerlei Notiz von den beiden. Ihr lautstarker Auftritt zuvor war von der Stille des Ortes verschluckt worden.
Franz unterbrach die Konzentration des ziellosen Ganges durch so viele mit einem Zierstein abgeschlossene Lebensgeschichten, gab sich einen Ruck: »Ich habe in der Tat ein anderes Thema, das ich mit dir besprechen muss. Dumm, dass wir uns dann über unsere Kindheit und so gestritten haben.«
»Egal«, murmelte Schmidt trocken, der seinen Bruder noch nie so nah an einer Entschuldigung hatte vorbeischleichen sehen.
»Es ist wegen Sabine. Sie arbeitet ja bei dir.«
»Ja, und das seit vielen Jahren. Davor hat sie für dich gearbeitet, richtig?«, stichelte er.
»Eine ganze Zeit, ja. Aber wieso hast du mir in all den Jahren nie etwas davon erzählt, dass sie bei dir arbeitet?«
Schmidt musste den erneut aufsteigenden Ärger unterdrücken: »Jetzt hör zu, Franz. Erstens wusste ich bis vor einigen Tagen nichts von eurer Geschichte und zweitens wolltest doch du mir etwas erzählen und nicht umgekehrt, oder?«
»Du hast natürlich recht. Aber du behältst das für dich. Also ich war damals in der Landesplanung und sie so eine fesche junge Sekretärin. Ich jung verheiratet, die Kinder noch ganz klein, zwei und drei, glaube ich. Sie war so unverdorben, kam aus Niederbayern. Aber sie hatte etwas – ich weiß nicht. Sie war so positiv und fröhlich. Du weißt, ich bin nicht so. Aber ich merkte bald, dass sie sich für mich interessierte. Ihre Art war so ansteckend.«
Schmidt konnte nicht an sich halten: »Und da hast du dich eben mal anstecken lassen.«
»Lass das bitte, Ulrich. Ich glaube, ich war einfach sehr verliebt. Ich versteh das auch nicht, wie sich das dann halt in die Richtung entwickelt hat. Aber Martha war nach der Geburt der Kinder immer mit sich beschäftigt und dauernd müde wegen Benedikt und Veronika. Und Sabine war immer frisch und strahlend und für mich da. Na ja, was soll ich groß sagen, da ist es halt passiert. Wir haben uns gesehen …«
Schmidt fiel ihm ins Wort. Zu sehr hatte sich die Schilderung der Graseder und ihre Verzweiflung in seinem Kopf festgesetzt: »Gesehen nennst du das? Wie ich das verstanden habe, sehr regelmäßig und auch ziemlich ausgiebig.«
»Ulrich, willst du mich lächerlich machen oder mir erst einfach zuhören?«
»Entschuldige.«
»Ich gebe ja zu, wir hatten ein Verhältnis. Und dann wurde Sabine schwanger. Ich geriet in Panik. Es ging nicht. Wegen meiner beruflichen Stellung nicht und noch weniger wegen meiner Familie. Im Amt
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