Der Maskensammler - Roman
Haare kurz und kleidete sich sportlich, und wenn sie sprach, konnte es keinen Zweifel geben, dass sie sich überlegt hatte, was sie sagen wollte. Sie stellte Ursula ihren Freundinnen vor, einem Kreis von Frauen, die es in verschiedenen Berufen zu etwas gebracht hatten. Sie trafen sich in wechselnder Besetzung jeden Samstagmittag zu einem ausgedehnten Essen unter der Kuppel einer Einkaufspassage. Als ungeschriebenes Gesetz galt, nicht über Frauenkrankheiten, Liebeskummer und Gewichtsprobleme zu reden. Andere Tabus gab es nicht.
Ines sagte ein paar Sätze, um Ursula einzuführen. Ein Stuhl wurde für sie herangerückt, dem Kellner ein «Noch ein Gedeck!» zugerufen. Ines nahm ein Glas: «Sehr zum Wohle!», für Ursula klang es wie «Herzlich willkommen». Man unterhielt sich über Kunst mit interessierter Gelassenheit. Namen wurden genannt, die offensichtlich allen geläufig waren, Ursula aber nichts sagten. Eine Galerie zeigte Walter de Marias «Earth Room», eine der Frauen, eine Journalistin, wollte gleich nach dem Kaffee zur Vorbesichtigung gehen. «Schreib was Freundliches», sagte jemand. «Ich bin mit den Friedrichs befreundet.» Dann kam das Gespräch auf die «documenta 4», man erregte sich über die zu erwartende Dominanz amerikanischer Künstler, von der aber Ines sich nicht abhalten lassen wollte, nach Kassel zu fahren. Dann fiel der Name Andy Warhol. «Er wird überschätzt», sagte eine Innenarchitektin. «Ich kann seine Campbell-Dosen nicht mehr sehen. Sie sind einfach langweilig. Und jetzt, nach dem Attentat auf ihn, wird er auch noch zum Märtyrer.» – «Ich finde das Attentat grauenvoll», sagte eine anderemit auffallend dicken Brillengläsern. «Es ist durch nichts zu entschuldigen. Und mich interessiert überhaupt nicht, ob die Frau, die auf ihn eingestochen hat, eine radikale Feministin oder eine Geistesgestörte ist.» – «Valerie Solanas hat auf ihn geschossen», sagte Ines. «Und weißt du, was das Tatmotiv war? Sie gab zu Protokoll, dass Warhol zu viel Einfluss auf ihr privates Leben ausgeübt hätte. Da sieht man’s mal wieder: kein Einfluss von Männern aufs Privatleben!» – Alle lachten.
***
Danach sahen Ines und Ursula sich öfter. Ines nahm Ursula mit ins Kino und zu Ausstellungen. Sie wusste, was zu sehen sich lohnte, sie kannte sich aus. Ihre Idee war es, auf geliehenen Fahrrädern zu einem Landgasthof zu fahren. Ursula blieb von diesem Ausflug in Erinnerung, dass sie nebeneinander auf einer Bank saßen, sich zuprosteten, sich dabei in die Augen sahen und anschließend leicht beschwipst in einem Moorsee badeten. Ein andermal bestiegen sie einen Berg, Ines immer voran, machten Picknick mit Landjägern und hartgekochten Eiern und dösten gesättigt in der Mittagssonne, bis ein Kribbeln und Zwicken sie aufspringen ließ: Sie hatten sich nah bei einem Ameisenhaufen ins Gras gelegt.
Ines hatte die Einfälle, sie machte die Vorschläge, bestellte Karten, studierte Fahrpläne, reservierte in Restaurants einen Tisch, bestimmte, wo und wann sie sich trafen. Ursula war mit allem einverstanden, sie ließ sich führen, ließ Ines entscheiden, vertraute sich ihr an. Sie war benommen von der Bereitschaft, sich aufzugeben, sie stellte keine Fragen, sie war glücklich.
In den Semesterferien arbeitete Ines im Archiv der Fotografischen Sammlung der Stadt. Sie hatte es übernommen, tausend fast einhundert Jahre alte Negativ-Glasplatten zu sichten, vorsichtig zu säubern, nach Sujets zu ordnen und die Namen der abgelichtetenPersonen sowie den Erhaltungszustand auf Karteikarten zu vermerken. Ursula ging ihr dabei zur Hand, sie war froh, dass Ines sich von ihr helfen ließ. Geschickt und mit Hingabe entfernte sie mit den weichen Wolken, die sie aus dem Inneren eines Weißbrots schnitt, die Staubschicht auf der Rückseite der Platten, eine Geduldsprobe, die Ines hasste.
Als fünfhundert Glasplatten archiviert waren, umarmten sich die Frauen im Überschwang. Die Hälfte der Arbeit war geschafft! Der Raum war abgedunkelt, sie standen im fahlen Licht einer von unten beleuchteten Mattscheibe. Ursula wollte die Deckenlampe anmachen, aber Ines hielt sie zurück und küsste sie. Ursula spürte die Feuchtigkeit ihrer Lippen und schloss die Augen. Ohne es sich einzugestehen, hatte sie auf diesen Augenblick gewartet.
Auf dem Weg zu Ines’ Wohnung hielten sie sich an den Händen, als dürften sie einen einmal geschlossenen Stromkreis nicht unterbrechen. Ursula sagte kein Wort, sie stand unter einer Art
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