Der Maskensammler - Roman
Dämmerung machte er Jagd auf streunende Katzen und Hunde. Der erste Treffer musste sitzen, er verschwendete nie zwei Patronen auf ein Vieh. Im Verein fiel er durch wechselnde Gewehre und Handfeuerwaffen auf, alles ältere, aber solide Modelle. Wo er die herhatte, blieb sein Geheimnis. Nie brachte er einen Freund mit, bei Schützenfesten saß er allein in der Ecke, den Schützenbrüdern war er unheimlich.
In den Wäldern der Riederers kam es zu einem Unfall, der in der Lokalzeitung Schlagzeilen machte. Manfred und ein Schützenbruder – der einzige Konkurrent, der ihm beim Turnier gefährlich werden konnte, der einzige, der ein Schnellfeuergewehr neuer Bauart besaß, das Manfred neidvoll begehrte – hatten sich verabredet, um ein Reh zu schießen. Stattdessen stöberten sie ein Wildschwein mit vier Frischlingen auf. Der Schützenbruder sprang vor, vom Jagdfieber erfasst. Da drückte Manfred ab und traf den Schützenbruder am Rückgrat. Der kam schwer verletzt ins Krankenhaus, überlebte, aber saß den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Wieso beging der erfahrene Schützenbruder einen Anfängerfehlerund sprang vor dem Wild in die Schusslinie? Wieso drückte Manfred ab, obwohl er nicht das Wildschwein, sondern den Schützenbruder vor der Flinte hatte? Die Szene wurde nachgestellt: Es war ein vom Schützenbruder selbst verschuldeter Unfall. Manfred konnten «niedere Beweggründe» nicht nachgewiesen werden, er kam mit einer Verwarnung davon: Er hätte nicht auf eine Sau mit Frischlingen schießen dürfen.
Bei erster Gelegenheit, als der Schützenbruder Geld für die Anschaffung des Rollstuhls brauchte, nahm Manfred ihm das Schnellfeuergewehr zu einem günstigen Preis ab. Jetzt war seine Waffensammlung perfekt.
Dem Löwen aus nächster Nähe in den aufgerissenen Rachen schießen, der Schlange mit einem Treffer den Kopf wegpusten, den Gangsterboss im Bett seiner Geliebten mit einem Loch zwischen die Augenbrauen hinrichten. Manfred hatte ein Idol: Lee Harvey Oswald. Ein Könner: exakte Planung, saubere Durchführung. Mit einer Krümmung des rechten Zeigefingers den Lauf der Welt verändern.
***
Alle Mitglieder der Wohngemeinschaft mussten mit zur Polizeiwache. Da ließ man sie in einem Flur warten, an dessen Wänden Fahndungsfotos von Personen geheftet waren, die wegen Mordes, Raub- und Banküberfällen oder Kindesentführung gesucht wurden. Eine Frau blickte aus schwarzen Augenhöhlen und mit verzerrtem Mund auf die Wartenden herab: Sie wurde wegen «des Verdachts auf Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung» gesucht.
Als Erste wurde Ursula aufgerufen. «Ab zum Verhör!», sagte Gerd, bevor sie in einem der Büros verschwand. Der Zuruf war vielleicht aufmunternd gemeint, verstärkte aber nur noch ihre Unruhe.Der Raum hatte die eindringliche Charakterlosigkeit aller Amtsstuben der Polizei. Außer einem Becher mit dem Bild von Schloss Neuschwanstein gab es keinen Gegenstand, an den Ursula sich später erinnern konnte. Ein rundlicher Beamter, dem man seine Vorliebe für eine Mass Bier ansah, nahm ihre Personalien auf und stellte dann in reinem Bayerisch die Frage: «Ham Sie bei der Demonstration vor der Uni mitgmacht?» Ursula sah ihn treuherzig an: «Nein!» – «Als Berufsbezeichnung ham Sie ‹Studentin› angegeben. Wieso besitzen’s dann keinen Studienausweis?» – Ursula hatte nicht bemerkt, dass etwas abseits ein zweiter, jüngerer Polizeibeamter stand. Sie habe einen Ausweis. Morgen oder übermorgen könne sie ihn abholen, antwortete Ursula. Sie war erstaunt, wie leicht es ihr fiel, zu lügen. «Ich bezweifle, dass sie die Wahrheit sagt», ließ sich jetzt wieder der jüngere Beamte vernehmen.» – «Ja, mei, die Wahrheit! Führ sie raus! Du siehst doch, dass sie harmlos ist.»
In den nächsten Tagen erledigte Ursula alle Formalitäten. Geduldig stand sie in der Schlange, die sich vor dem Sekretariat gebildet hatte. Sie schrieb sich ein, für einen Studienausweis musste sie erneut anstehen. Den Blick hielt sie gesenkt, sie fühlte sich leer, sie hatte Mühe zu sprechen, die Worte bildeten Klumpen auf ihrer Zunge. Wenn es sich ergab, aß sie einen Teller Suppe, mehr nicht. Um Polizisten machte sie einen Bogen. In den Nächten, für die sie im Voraus bezahlt hatte, schloss sie sich in ihrem Zimmer in der Pension Karnitzer ein.
Die Wohngemeinschaft hatte sich aufgelöst. Gerd hatte sich zu den Genossen in Italien abgesetzt, Rosa, Kalle und die anderen hatten den Kontakt zu ihr abgebrochen.
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