Der Maskensammler - Roman
als «halbe Portion».
Schwimmen war Nebensache bei Ausflügen ins Freibad. Die Schützenbrüder steuerten den Kiosk an, verscheuchten einige Jungens von dem Tisch, von dem aus man den besten Ausblick auf den Ausgang der Damenumkleide hatte, und rückten den Afri-Kola-Schirmbeiseite, der die Sicht verstellte. Manfred schickten sie Bier holen. «Bring ’ne Zeitung mit!» Neben dem Abfallsack hockte eine kranke Taube, Manfred erschrak, beinahe wäre er auf sie getreten. Ein schlechtes Omen.
Auf der ersten Seite war regelmäßig im unteren Drittel eine nackte Frau abgebildet. Das Foto machte die Runde, Kommentare wurden abgegeben. «Prost! Die wäre zur Abwechslung nicht schlecht.» – Auf der Wiese saßen auf mitgebrachten Campingstühlen ältere Ehepaare, der Bademeister stand untätig am Beckenrand, irgendwo im Hintergrund spielten Kinder Ball, die Tür der Damenumkleide öffnete sich, heraus kam eine Mutter mit Baby auf dem Arm. «Nichts los heute!»
«Ja, was sehe ich denn da?! Das ist doch nicht zu glauben!» Einer, den sie Benni nannten, hielt das aufgeschlagene Blatt hoch, sodass alle es sehen konnten. «Kampf den Männern!», war da in Blockbuchstaben als Aufmacher zu lesen und darunter «Bericht über den ersten deutschen Lesbenkongress». Auf Seite drei eine Auswahl von nicht gerade schmeichelhaften Fotos der Teilnehmerinnen. «Wie sehen die denn aus?!», sagte einer. «Zum Abgewöhnen.» – «Die müsste man nur mal richtig durchficken, dann wären die geheilt.» Die Schützenbrüder grölten. «Noch ’ne Runde!» Manfred sah, wie die Taube matt mit den Flügeln schlug und dann zur Seite kippte.
«Ja, seid ihr denn blind?! Hier, hier! Die da! Die kennen wir doch!» Alle Hälse reckten sich, um die zu sehen, auf die Benni mit dem Finger zeigte. «Die Weinzierl Ursula», sagte er fast flüsternd. Alle Augen richteten sich auf Manfred. «Deine Schwester!»
Er erkannte sie. Es gab keinen Zweifel, sie war es. Seine Schwester eine Perverse. Er hatte von denen gehört, sie versteckten sich nicht länger. Sie trafen sich in einem gewissen Café, in dem Männer keinen Zutritt hatten, und im Park saßen sie in dunklen Ecken und küssten sich schamlos.
«He, Manni! Warum hast du uns verschwiegen, dass es deine Schwester mit Frauen treibt?! Hast du bei denen mal zugeguckt?» Hilflos schüttelte Manfred den Kopf. Sie lachten über ihn, er war blamiert, bis auf die Knochen blamiert. Lange hatte er um ein bisschen Anerkennung gekämpft. Beim Tontaubenschießen hatte er vom Vorsitzenden als Bester eine Schleife bekommen. Sie hatten Beifall geklatscht, aber sie mochten ihn nicht wirklich, das hatte er immer wieder gespürt. Mit der Waffe in der Hand war er ihnen überlegen, mit ihren rostigen Knarren konnten sie es mit ihm nicht aufnehmen. Jetzt geriet alles ins Wanken. Lee Harvey Oswald würde nur mitleidig lächeln, wenn er ihn hier sitzen sähe.
«Pass nur auf, Junge, dass sie dir nicht eines Nachts – ratsch! – den Schwanz abschneidet», rief einer. «Jetzt aber mal im Ernst!» Das war wieder Benni. «Was hast du vor? Das ist keine Kleinigkeit, das zieht dich mit in den Dreck. Lass dir was einfallen! Du musst uns beweisen, dass du damit nichts zu tun hast, dass du anders bist: ein ganzer Kerl.» Er schlug Manfred auf den Rücken. «Es geht um deine Ehre, verstehst du? Mit einer warmen Tussi als Schwester hast du bei uns nichts verloren.» Alle nickten zustimmend. Neben ihnen nahm der Mann vom Kiosk die Taube, die sich nur noch schwach wehrte, an einem Flügel und ließ sie in den blauen Plastiksack fallen.
Mit einem Ruck stand Manfred auf und schob die Schulterblätter auseinander. Noch am selben Tag ließ er sich einen Totenkopf auf den Oberarm tätowieren. Anschließend kaufte er sich eine Fahrkarte nach Berlin.
***
An dem Kongress nahmen über hundert Frauen aus allen Teilen der Bundesrepublik und auch Vertreterinnen von holländischen und skandinavischen Organisationen teil. Männer waren nicht zugelassen,auch nicht als Berichterstatter oder Fotografen. Ein bekennender Schwuler verlas zu Beginn eine Grußbotschaft, Beifall, dann musste er gehen. Ines sah hinreißend aus. Das ausgearbeitete Referat lag vor ihr auf dem Pult, sie sprach aber frei. Ursula saß in der ersten Reihe, sie war begeistert von der Offenheit, mit der man anschließend diskutierte, die Verletzungen der letzten Zeit waren vergessen. In den Arbeitsgruppen saß sie stolz neben Ines. Als sie aus dem Mund der Freundin die Worte
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