Der Maskensammler - Roman
Zumutung. Sie wünschte, das, was nun kommen musste, wäre schon vorbei. Ruth mitzubringen, war ein Fehler. Es war ihr unangenehm, dass sie das Chaos, das ihre Mutter hinterlassen hatte, sehen und ihre Hilflosigkeit spüren würde, mit Manfred und Maria zu einer vernünftigen Einigung zu kommen. Ruth wollte wissen, ob es in dem Haus einen Teppich gäbe. Einen Teppich für unter den Esstisch, den könnten sie gut gebrauchen.
Ursula sah hinüber zum Jagdhaus, dessen Fensterläden im Erdgeschoss geschlossen waren. Von Nora hatte sie erfahren, dass Bernhard wieder im Sanatorium war: «Es ging nicht anders. Sein Verhalten war unzumutbar. Ich musste ihn zur Kur anmelden.»
Sie hatten sich auf die alte Holzbank vor dem Haus gesetzt. Drei ihrer Beine waren aus den Fugen gebrochen, gehalten wurde sie vom vierten Bein, einem derben Pflock, den seinerzeit Jean-François an die Sitzfläche genagelt hatte. Ursula verband mit dieser Bank einige der wenigen schönen, frühen Erinnerungen. Hier hatte Katrin den Kindern Lieder vorgespielt, noch eines und noch eines, bis sie ins Bett gehen mussten. Davon hätte sie Ruth gerne erzählt, aber die war mit ihren Zehennägeln beschäftigt.
Gerade als Ursula anfing, in Katrins Handtasche ungeduldignach dem Hausschlüssel zu suchen, kündigte sich durch ein auf volle Lautstärke gestelltes Autoradio weiterer Besuch an. «Ein Manta», stöhnte Ruth, als der Wagen, grasgrün mit violettem Verdeck, in der Mitte des Hofes hielt. Ihm entstiegen, etwas steif im Rücken, Manfred und ein Mann seines Alters in schwarzer Lederjacke, den er als seinen Freund Horst vorstellte. Horst nickte angesichts der Frauen nur, was zur Folge hatte, dass auch Manfred seiner Schwester nicht die Hand schüttelte. Horst steckte sich ein Kaugummiplättchen in den Mund: «Worauf warten wir noch?» – «Ja, worauf eigentlich?», fragte Ruth.
In der Mitte der Wohnküche blieb Ursula stehen und blickte sich um. Was sie sah, war schlimmer, als sie erwartet hatte. Katrin hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, ihr Geschirr, die Pfannen und Töpfe zu spülen, bevor sie sie wieder benutzte. Der Mülleimer quoll über, Abfälle, für die kein Platz mehr war, standen daneben auf dem Boden. Eine klebrige Spur führte in den Flur Richtung Toilette, die Katrin offensichtlich nicht mehr rechtzeitig erreicht hatte. In einer Nische hinter einem Vorhang, in der früher Besen und Schrubber an Haken gehangen hatten, standen versteckt unzählige leere Flaschen. Es war schauderlich. Katrin, ihre Mutter, die an Elterntagen in der Schule der Direktorin die Fragen gestellt hatte und schöner gewesen war als die Mütter aller anderen Mädchen; auf die sie stolz gewesen war, weil sie ihre Kinder allein durchbrachte und keinem Mann hinterherlief: verkommen im Schmutz, allein gelassen mit ihrem Feind, dem Alkohol.
«Gibt es hier einen Teppich?», fragte Ruth. «Nein! Aber Mäuse, jede Menge fetter Mäuse mit langen, nackten Schwänzen.» Ruth sah Ursula fassungslos an: «Was ist denn mit dir los!» Sie ging zurück zu der wackeligen Bank vor dem Haus und widmete sich wieder ihren Zehennägeln.
Horst hatte Schranktüren aufgerissen und Schubladen durchwühlt und schließlich gefunden, was er suchte: einen Hammer. Erzog die Lederjacke aus, auf seinen Oberarm war der Kopf von Michelangelos David tätowiert, der den Mund zu einem Grinsen verzog, wenn Horst seinen Bizeps anspannte. Er kniete sich auf den Dielenboden und klopfte auf die Bretter. Eines nach dem anderen nahm er sich vor. Plötzlich schrie er: «Hier! Hier hat sie sie versteckt!» Und zu Manfred: «Komm, Mann, hilf mir! Wir müssen den Boden aufstemmen.»
***
In dem Moment erschien Maria in der Tür, hinter ihr Axel. «Entschuldigt bitte, dass wir so spät kommen. Wir haben es nicht früher geschafft. Ein unerwarteter Besuch. Wer das war, wird euch vielleicht interessieren. Aber das kann ich ja später erzählen.» Ohne Erfolg versuchte sie, Ursula zu umarmen, Manfred mit Axel bekanntzumachen und herauszufinden, warum sich der ihr unbekannte Mann in Schaftstiefeln an den Dielenbrettern zu schaffen machte. «Wer ist die Frau draußen auf der Bank?», fragte sie. Und als Ursula nicht antwortete: «Sie hat wohl schlechte Laune. Ich wollte ihr ‹Guten Tag› sagen, aber sie pulte nur zwischen ihren Zehen rum und meinte, ich solle sie nicht nerven.» Dann holte sie aus einer Kammer einen Besen und begann zu kehren. «Hör auf damit!», sagte Ursula. «Wir machen jetzt einen Rundgang
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