Der Medicus von Heidelberg
erdrosselt hatte. Doch gottlob konnte ich Herztöne vernehmen.
»Dein Kind lebt«, sagte ich zu Merle. Ich wollte ihr damit Mut machen, aber Merle antwortete nicht. Sie war ein zartes Ding, viel zu zierlich für schwere, schnaufende, ungehobelte Männer, die sich lüstern auf sie warfen.
Ich schalt mich selbst, weil meine Gedanken in eine Richtung abglitten, die mit der Diagnose nichts zu tun hatte, und machte weiter. Wenig später stand meine Meinung endgültig fest.
Als Muttchen sah, dass ich mit der Untersuchung fertig war, zog sie mich in den benachbarten Raum, damit wir unter vier Augen reden konnten. »Wie steht es?«, fragte sie.
»Nicht gut«, antwortete ich. »Das Kindlein hat eine geburtsunmögliche Lage. Ihr habt es sicher schon selbst ertastet.«
»Und Eure Maßnahmen, Herr Medicus?«
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich fürchte, hier ist alle ärztliche Kunst vergebens, oder, um es anders zu sagen: Selbst wenn es gelänge, das Kindlein zu drehen, wäre die Leibesfrucht immer noch zu groß und das Becken zu eng.«
Muttchen schwieg und atmete schwer. Sie faltete ihre mit goldenen Ringen besetzten Hände und begann zu weinen.
Ich stand daneben, staunend und hilflos, und kam mir ziemlich überflüssig vor.
»Sie sind doch alle meine Kinder«, stieß Muttchen plötzlich hervor. »Sie sind nicht so, wie Ihr vielleicht denkt, Herr Studiosus. Sie sind in Armut und Dreck und Ungerechtigkeit aufgewachsen, die meisten jedenfalls, und nicht wenige wurden von ihrer Herrschaft missbraucht und verstoßen, bevor sie zu mir kamen. Das Leben ist nicht immer so einfach, wie es scheint, und nicht alles ist gut, was gut aussieht, und nicht alles ist schlecht, was schlecht aussieht.«
Sie schniefte und trocknete sich die Tränen. »Herr im Himmel, was rede ich. Euch als Medicus wird kaum interessieren, was eine Bordellmutter für Sorgen hat.«
Ich räusperte mich. In der Tat war ich noch nie auf den Gedanken gekommen, dass auch die Mädchen im Hurenhaus ein Schicksal hatten. Aber es mochte stimmen, dass viele von ihnen ungewollt im Haus in der Großen Mantelgasse gelandet waren. Alles hatte eben seine Kehrseite. »Wie es scheint, hat es Euch gutgetan, die Dinge einmal auszusprechen«, sagte ich.
»Das hat es. So wahr Jesus Christus Gottes eingeborener Sohn ist.« Muttchen hatte sich wieder gefangen. »Wir wollen zu ihm beten, damit es mit Merle rasch zu Ende geht. Wenn wir Glück haben, kommt der Armenpriester vorher und gibt ihr die letzte Ölung. Dann stirbt sie wenigstens nicht in Sünde.«
Nach diesen Worten wollte Muttchen wieder zu Merle gehen, aber ich hielt sie auf. »Heißt das, Ihr wollt untätig warten, bis das Mädchen tot ist?«, fragte ich ungläubig.
»Habt Ihr einen besseren Vorschlag?«, fragte sie zurück.
»Nein«, sagte ich und dachte an meinen Vater, der in ähnlicher Lage mutiger gewesen war als ich. Ich dachte daran, dass auch ein Arzt irgendwann mit seinem Latein am Ende war, und daran, dass jeder von uns einmal sterben muss. Ich dachte aber auch an Justus Rating de Berka, der mein Freund war und der nicht an der Pest gestorben war, obwohl er mit einem Bein schon im Grab gestanden hatte. Ich dachte daran, was ich alles bei ihm gelernt hatte, bei ihm und Meister Karl. Ich dachte daran, was ich überhaupt schon alles gelernt hatte, aus vielen Büchern, in vielen Nächten, in vielen Lesungen. Ich dachte an Hermann Koutenbruer, den großen Theoretiker, der mir so vieles beigebracht hatte, auch wenn er niemals selbst zum Messer griff – an alles das und noch viel mehr dachte ich, und dann sagte ich: »Doch, vielleicht doch. Ich werde bei Merle eine Schnittentbindung versuchen.«
Muttchen starrte mich an, als wäre ihr der Bocksbeinige persönlich begegnet. »Das ist nicht Euer Ernst.«
»Fällt Euch eine bessere Lösung ein? Ich meine, eine bessere, als Merle ohne Kampf aufzugeben?«
Muttchen schwieg. Dann fragte sie: »Könnt Ihr so was denn überhaupt? Verzeiht, wenn ich so offen frage, aber ich kenne Euch nicht.«
»Ich weiß genau, wie bei einer solchen Operation vorzugehen ist«, sagte ich und gab mich sicherer, als ich mich fühlte. »Ich selbst habe mit Hilfe der Schnittentbindung einen gesunden jungen Bruder bekommen.«
»Bei gleichzeitigem Tod der Mutter?«
»Nein, die Mutter lebt. Sie lebt bis heute und hat im Jahr darauf sogar noch einmal Zwillinge geboren. Ihr seht, der Eingriff kann gelingen. Ich müsste mir nur ein Operationsbesteck besorgen.«
»Das braucht Ihr
Weitere Kostenlose Bücher