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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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können …
    Wie alle Verbote, so wurden auch diese fleißig übertreten, und die junge Hure vor mir war dafür der lebende Beweis. Ich griff nach meinem selbstgeschmiedeten Skalpell, nicht, um es benutzen zu wollen, sondern aus der Überlegung heraus, es könne als Waffe dienlich sein. Denn die Große Mantelgasse war nachts nur spärlich beleuchtet, und einen Rest Misstrauen hatte ich mir bewahrt, nachdem ich jüngst bestohlen worden war. Ich legte Schnapp das Halsband um und nahm ihn an die Leine. »Gehen wir, mein Großer«, sagte ich.
     
    Das Haus in der Großen Mantelgasse war äußerlich in keinem guten Zustand. Vornehme Bürger hätten sein heruntergekommenes Aussehen gerügt – ebenso wie das, was seine Bewohnerinnen darin taten. Doch hielt das viele von ihnen nicht davon ab, dem Haus gern einen Besuch abzustatten, heimlich und unerkannt, versteht sich.
    Die junge Hure, die mich geholt hatte – ihr Name war Heddi, »Heddi von Hedwig«, wie sie mir mit wichtiger Miene verriet –, betätigte den Türklopfer. Eine Klappe in der Tür öffnete sich. Das Gesicht einer älteren Frau wurde sichtbar. »Wer ist da?«, fragte sie.
    »Wir sin’s nur, Muttchen. Ich un der Medicus un sein Hund.«
    »Gelobt sei Jesus Christus.« Die Tür öffnete sich. Die Frau, die von Heddi »Muttchen« gerufen wurde, ließ uns ein. Sie war, wie ich vermutete, die Aufseherin des Bordells, eine ältliche, dickliche Person mit Hängebacken und Tränensäcken. »Da geht’s lang«, sagte sie und führte mich mit watschelnden Schritten ins Innere, vorbei an einer Reihe von Türen, hinter denen die Frauen des Hauses ihrem Gewerbe nachgehen mochten. An der Stirnseite des Ganges lag eine quadratische Kammer mit Bett, allerlei Möbelstücken und einem Gebärstuhl. In dem Stuhl saß ein Mädchen und klammerte sich an die Haltegriffe links und rechts. Die Kleine war kaum dreizehn Jahre alt, viel zu jung, um als Hure zu arbeiten. Aber ich war nicht als Moralapostel gekommen, sondern als Arzt. »Ich bin Lukas Nufer, Studiosus der Medizin. Ich will versuchen, dir zu helfen. Wie heißt du?«, begann ich das Gespräch.
    »Merle«, hauchte sie. Ihr Gesicht war schweißnass. Mit einer linkischen Bewegung zog sie die Decke höher über ihren dicken Leib. Dann sah sie Schnapp. »Oh, der is aber groß.«
    Ich dachte mir, es sei nicht schlecht, sie ein wenig von ihren Schmerzen abzulenken, und stellte Schnapp vor. »Er ist lammfromm«, fügte ich hinzu. Schnapp schnupperte am Bettzeug, leckte Merle die Hand und wedelte mit dem Schwanz.
    »Ich glaub, der is wirklich nett«, sagte sie. »Muss schön sein, so ’n großen Hund zu haben.«
    Inzwischen waren weitere Huren in die Kammer gekommen. Sie musterten mich neugierig, hielten sich aber mit Worten zurück und begannen, Schnapp zu streicheln. Wie alle Huren waren sie tierlieb.
    Muttchen schob die Mädchen beiseite und drängte sich an mich heran. »Hört, Herr Medicus, was versucht werden konnte, ist versucht worden. Ich habe auch Kinder geboren und weiß, wovon ich rede. Aber Ihr sollt Euch selbst ein Bild machen. Der Herrgott ist mein Zeuge.«
    »Danke, äh, Muttchen«, sagte ich. »Ihr müsst nicht Medicus zu mir sagen. So weit ist es noch nicht, Studiosus genügt. Nun lasst mich Merle untersuchen.«
    Ich ging zu Merle und sagte: »Wenn ich dir helfen soll, muss ich die Decke zurückschlagen und alles sehen können.«
    Merle nickte scheu. Es war seltsam, dass sie, deren Gewerbe es mit sich brachte, vor jedem Mann die Kleider fallen zu lassen, in diesem Augenblick Scham empfand. Doch ich dachte nicht weiter darüber nach, nahm behutsam die Decke fort und tastete ihren Leib ab. Während ich das tat, dachte ich flüchtig an Rosanna, der ich so viele praktische Handgriffe verdankte, und nahm mir vor, sie auf keinen Fall holen zu lassen. Es war Heiligabend, und sie hatte es mehr als verdient, diesen Feiertag im Kreise der Ihren zu verleben.
    Ich brauchte nicht lange, um festzustellen, dass die Lage des Kindleins nahezu hoffnungslos war. Es lag quer wie ein Pflock, war ungewöhnlich groß, und alles Streichen und Drücken, alles Schieben und Massieren würde zwecklos sein. Auch die Stöckchen-Methode von Rosanna versprach keinen Erfolg, denn zu allem Unglück lag das Kindlein mit dem Rücken zum Bauch, zusammengerollt wie ein Igel. Ich legte mein Ohr auf den geschwollenen Leib, denn ich fürchtete, die unnatürliche Lage könnte dazu geführt haben, dass sich das Kindlein mit der Nabelschnur selbst

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