Der Medicus von Heidelberg
griff ins Leere. Ich hatte keine Nachricht bekommen. Im Gegenteil, die Alte hatte mir mein Geld gestohlen. Sie war nicht Milda, sondern eine Diebin gewesen.
Fortan schaute ich jeder alten Frau misstrauisch auf der Straße entgegen, aber keine kam mir mehr zu nahe.
So verging der Dezember. Am Heiligabend saß ich allein in meiner Wäschekammer und blies Trübsal, nachdem Rosanna mir ein gesegnetes Fest gewünscht und sich verabschiedet hatte, um in die Kirche zu gehen. Auch ich hätte gehen können, aber ich hatte Schnapp in letzter Zeit häufig allein gelassen, und so brachte ich es nicht übers Herz. Obwohl er bei mir war, kam ich mir grenzenlos einsam vor. Ich wusste, ich wäre jederzeit bei Fischel und Rahel willkommen gewesen, doch ich wollte mich ihnen nicht aufdrängen. Ich hatte schon den vergangenen Heiligen Abend bei ihnen verbracht und den Luftröhrenschnitt bei dem kleinen Simon vorgenommen. Lag das wirklich schon ein Jahr zurück?
Ich zündete gerade eine weitere Kerze an, um besser in meine Bücher schauen zu können, als es unvermittelt klopfte. Wer konnte das sein? Ich erwartete niemanden. Schnapp bellte.
»Ruhig, mein Großer«, sagte ich und ging zur Tür. Ich öffnete. Vor mir stand eine junge Frau, die ich noch nie gesehen hatte. »Ich glaube, Ihr habt Euch in der Tür geirrt«, sagte ich.
»Das glaub ich nich«, antwortete sie und bedachte mich mit einem kecken Augenaufschlag. Ihr Mieder war zu stramm und ihre Kleidung zu bunt, um als züchtig gelten zu können. Ich ahnte, wen ich vor mir hatte. »Was willst du?«, fragte ich.
»Eine von uns liegt schwanger, aber’s Kind will nich raus. Deshalb komm ich, Herr Medicus.«
»Ich bin noch kein Medicus. Im Übrigen bist du bei mir an der falschen Adresse. Geh hinunter zu einer der Kundigen Frauen.«
»Da is keine. Sind alle wech, is ja Weihnachten.«
Das stimmte allerdings. Ich überlegte, was zu tun war. Koutenbruer? Ihn konnte ich schlecht benachrichtigen. Er feierte gewiss im Kreise seiner Familie und würde über eine Störung am Heiligen Abend alles andere als erbaut sein. »Kennst du keine Wehmutter aus der Nachbarschaft?«
»Das schon, aber die is sich zu fein. Rümpft die Nase über welche wie uns.«
»Wie seid ihr, äh, Frauen überhaupt auf mich gekommen? Ich meine, ihr kennt mich doch gar nicht?«
»Da täuscht Euch mal nich! Is im ganzen Viertel rum, wie Ihr der Berta aus der Haspelgasse geholfen habt.«
Berta, die Magd mit den Zwillingen. Ich erinnerte mich genau an die schwere Geburt. »Aber bei Berta habe ich nur assistiert. Rosanna war es, die das Hauptsächliche getan hat.«
»Aber Rosanna is nich da. Un wenn Ihr es macht, isses immer noch besser, als wie wenn keiner es macht.«
»Aha.« Gegen diese Logik war schlecht etwas einzuwenden. Ich überlegte, ob ich das Anliegen nicht rundweg ablehnen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass ich es nicht durfte. Wer wie ich sein Leben der Medizin verschrieben hatte, durfte nicht bei der erstbesten Gelegenheit kneifen. Das war eines Jüngers des Hippokrates nicht würdig.
Die Hure bedachte mich mit einem weiteren Augenaufschlag. »Der Hund is nett. Den könnt Ihr ruhig mitbringen. Wir mögen Beller.«
»Das ist allerdings ein schlagendes Argument«, sagte ich nicht ohne Spott.
»Können wir dann los? Wir sind in dem Haus inner Großen Mantelgasse.«
Das war mir bekannt. Es gab wohl keinen Studenten in Heidelberg, der nicht schon von dem Bordell gehört hätte. »Der gemeinen Frauen Haus«, wie es beschönigend hieß, war der Obrigkeit ein Dorn im Auge, weshalb einer der Obrigkeit, der gestrenge Geistliche Heinrich Knoblochtzer, vor zwölf Jahren einen Beichtspiegel für Laien verfasst hatte. Dieser Spiegel wurde jedem Studenten, ob er wollte oder nicht, buchstäblich vors Gesicht gehalten, damit er lese, was anzuprangern war: dass die Aufseher öffentlicher Häuser es den Huren gestatteten, in schändliche und schlampige Kleidung auf die Straße und in die Kirche zu gehen und dass mancher junge Mann, der vielleicht sonst nicht daran gedacht hätte, dadurch zur Unlauterkeit der Begierde gereizt würde. Die Dirnen sollten weder im Hause noch außerhalb mit Worten, Taten oder Gebärden jemanden »dartzu reitzen«. Außer Hause sollten sie bei Gesellschaften, auf offenen Plätzen, auf Märkten oder bei Kirchweihen in geziemender Kleidung auftreten. In der Kirche sollten sie so stehen, dass sie niemanden sahen und von niemandem gesehen wurden. Nur sie selbst sollten den Altar sehen
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