Der Medicus von Heidelberg
gegenüber den Insassen der Kutsche – überraschenderweise auch gegenüber Steisser und seiner Frau. Deshalb war ich nicht undankbar, als Thérèse das Thema wechselte und mich fragte: »Sag, warum willst du eigentlich ein Medicus werden? Nur weil du damals immer der Wundarzt warst, wenn wir mit den anderen Kindern gespielt haben?«
»Ja«, sagte ich, »das ist sicher ein Grund.«
»Das versteh ich nicht. Ich war immer die Nonne, aber ich hab mich nie danach gesehnt, eine zu werden.« Thérèse begann zu singen:
»Es ging ein Pater längs der Kant,
fasst’ Nönnelein ans Strumpfeband,
wohl halb so im Scherz.
Es war im März, März, März …«
Sie kicherte und drängte sich an mich. »Davon, dass ich keine Nonne werden will, hast du dich ja überzeugt, oder?«
Ich ging nicht auf ihre Neckerei ein. Der Wunsch, ein Heilkundiger zu werden, hatte von jeher in mir gebrannt. Er war so groß, dass ich bereit gewesen war, zum Auftakt meiner Ausbildung vier Jahre lang die geforderten
Artes liberales,
also das notwendige Wissen eines freien Mannes, zu studieren, obwohl es mit der Behandlung von Krankheiten kein Jota zu tun hatte. Gertruds tragischer Tod, den ich so hilflos hatte mit ansehen müssen, war der beste Beweis dafür.
»Den Ausschlag für meinen Berufswunsch hat mein Vater gegeben«, sagte ich.
»Dein Vater?«
»Ja, so ist es.« Ich erzählte Thérèse von der atemberaubenden Schnittentbindung, die meiner Stiefmutter zu einem gesunden Sohn verholfen hatte. Natürlich wusste Thérèse davon, denn der glückliche Ausgang hatte sich damals wie ein Lauffeuer im ganzen Dorf herumgesprochen, doch die Einzelheiten kannte sie nicht. Und sie wusste auch nicht, welch bewundernswerten Mut mein Vater an den Tag gelegt hatte, als er die lebensgefährliche Operation wagte.
Als ich geendet hatte, schwieg Thérèse eine Zeitlang andächtig. Dann sagte sie: »Jetzt verstehe ich, dass du es deinem Vater gleichtun willst. Ich bin stolz auf dich.«
»Wie bitte?« Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt, nicht einmal mein Lehrer und väterlicher Freund Johann Heinrich Wentz.
»Ich glaube, was dein Vater gekonnt hat, kannst du auch.«
»Ich hoffe es«, sagte ich. »Aber so einfach ist das nicht. Alle Mütter sterben bei der Schnittentbindung, und keiner der vielen Meisterärzte weiß bisher, warum. Sicher, sie wissen, dass die Frauen Entzündungen im Unterleib bekommen und hohes Fieber dazu, aber warum das so ist, entzieht sich ihrer Kenntnis. Das gälte es, herauszufinden. Und natürlich, was Vater anders gemacht hat, denn dass er etwas ganz Wesentliches anders gemacht hat, steht für mich fest. Irgendwann werde ich vielleicht dahinterkommen.«
»Wenn einer es schafft, dann bist du’s, das weiß ich!«
Ich wiegelte ab. »Erst einmal müssen wir es schaffen, heil nach Durlach zu kommen. Ich glaube, wir befinden uns seit einiger Zeit auf der alten Römerstraße nach Norden. Da vorn, das muss die Holzbrücke über die Alb sein, von der die Leute vorhin am Wegrand erzählt haben.«
Wir fuhren über die Brücke und dann weiter in Richtung Durlach. Die Straße verzweigte sich zusehends, und immer wieder musste ich nach dem rechten Weg fragen. Doch man gab mir freundlich Auskunft, denn die Leute waren fromm und gottesfürchtig. Einer von ihnen fragte: »Ist das nicht die Kutsche von Gertrud, Hochwürden?«
»Ja, das ist sie«, antwortete ich. »Gertrud ist tot. Wir haben sie am Fuß der Hornisgrinde begraben.«
»Das ist ein schönes Fleckchen Erde. Wir werden für sie beten.«
»Ja, tut das.«
»Gott mit Euch, Hochwürden.«
Am Spätnachmittag erreichten wir Durlach und fuhren zum Turmberg mit der alten Burgruine, denn man hatte uns gesagt, dass es an dieser Stelle eine gastliche Herberge gebe.
Der Letschebacher
hieße sie. Wir wurden dort freundlich empfangen, doch der Wirt hatte nur noch eine Kammer frei, welche Steisser selbstverständlich für sich und seine Frau beanspruchte. Thérèse bot man an, sie in einer benachbarten Herberge unterzubringen, was sie zum Schein annahm. Später kam sie zu mir in die Kutsche, und wir verbrachten die Nacht miteinander. Schnapp, der zwischen uns schlief, sorgte dabei für Heiterkeit, denn aus seiner kleinen Schnauze drangen die ersten Schnarchgeräusche.
Am Morgen danach brachen wir früher auf als gewöhnlich, da der nächste Abschnitt unserer Reise lang war. An die sechzig Meilen sollte es bis Heilbronn sein. Doch wir kamen zügig voran, das Wetter spielte mit, und die
Weitere Kostenlose Bücher