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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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gut. Am Abend kehrten wir in einer Waldschenke ein, die den anheimelnden Namen
Im Drosselnest
trug. Dort aßen wir Brot und eine Waldsuppe, deren Grundlage aus getrocknetem Giersch, Bärlauch, Ampfer, Klee und Gundermann bestand. Bald darauf kam die Müdigkeit, und wir begaben uns zur Ruhe.
    In der Nacht besuchte mich Thérèse wieder an meinem Schlafplatz in der Kutsche, doch die Zärtlichkeiten und Liebkosungen, die wir austauschten, waren eher oberflächlich, denn wir mussten immerfort an Gertrud denken, und wir fragten uns bang, wann wohl ihr nächster Anfall käme.
    Doch er kam nicht. Die Nacht verlief ruhig, vielleicht auch deshalb, weil ich Gertrud vor dem Schlafengehen den letzten Tropfen des segensreichen Laudanums verabreicht hatte.
    Am anderen Morgen waren wir noch vor Tagesanbruch auf den Beinen. Gertrud inspizierte wie immer ihre Kutsche und kontrollierte darüber hinaus das wenige Werkzeug, das unter dem Wagenboden befestigt war. Sie wirkte recht munter und krächzte: »Wenn man erst mal im Morast steckt, ist man froh, Schaufel und Spaten dabeizuhaben.«
    »Ist die Strecke denn so sumpfig?«, fragte ich.
    »Nein, die Strecke ist nicht sumpfig, aber das Wetter ist launisch. Es gibt Regen, ich spür’s in den Knochen.«
    Sie sollte recht behalten. Kurz nachdem wir aufgebrochen waren, goss es Bindfäden, und auf dem Kutschbock war es alles andere als angenehm. Wir schützten uns mit Decken, die wir über die Köpfe zogen, doch nach kurzer Zeit hatte Thérèse genug. Sie zog die Enge in der Kutsche der Nässe auf dem Kutschbock vor. Schnapp nahm sie mit. So waren Gertrud und ich wieder allein. »Willst du mal die Zügel nehmen?«, fragte sie nach einer Weile.
    Ihr Angebot kam überraschend, aber ich sagte ja.
    Sie zeigte mir, wie man die Zügel hält, wie und wann man an ihnen zieht, wiederholte noch einmal die Kommandos für Castor und Pollux und sagte: »Du stellst dich nicht allzu dumm an. Bring den Wagen zum Stehen, ich muss mal in die Büsche.«
    Ich hielt die Kutsche an und beobachtete, wie Gertrud es plötzlich eilig hatte. Mit verzerrtem Gesicht kletterte sie vom Bock herunter, hielt sich den Leib und verschwand hinter dichtem Gesträuch. Ich dachte: Lieber Gott, mach, dass der vermaledeite Stein sich löst. Mach, dass sie müssen kann. Es wäre eine Gnade für uns alle.
    Dann wartete ich.
    Der Regen ließ nach, die dunklen Wolken verschwanden. Ich dachte, dass es angenehm für Gertrud sein müsse, ihr Anliegen im Trockenen erledigen zu können.
    Etwas später dachte ich, dass gut Ding Weile haben will.
    Und noch etwas später dachte ich, dass mit Gertrud vielleicht etwas nicht stimmte.
    Zu derselben Überzeugung schien auch Steisser gekommen zu sein, denn er steckte den Kopf aus dem Fenster und rief mit seiner öligen Stimme: »Wie lange dauert das denn noch? Will diese Gertrud hier Wurzeln schlagen?«
    »Sie macht das, was auch Ihr ein paarmal am Tag macht«, entgegnete ich. »Wahrscheinlich ist aber das Ergebnis ihrer Bemühungen sehr viel kleiner als bei Euch, wenn ich an die Portionen denke, die Ihr fresst und sauft.«
    Er gab einen grunzenden Laut von sich und zog den Kopf wieder zurück.
    »Gertrud ist doch hoffentlich nichts passiert?« Diesmal war es Thérèse, die den Kopf aus dem Fenster steckte.
    »Ich weiß es nicht.« Allmählich wurde auch ich unruhig. »Am besten, ich sehe einmal nach.« Ich stieg vom Kutschbock herunter und streckte die Glieder. Die Richtung, in der Gertrud verschwunden war, hatte ich mir gemerkt. Ich bahnte mir einen Weg durch das Gesträuch und rief laut ihren Namen, denn ich wollte ihr die Peinlichkeit ersparen, bei ihrer Tätigkeit überrascht zu werden. »Gertrud!«
    Ich durchkämmte das ganze Gehölz und konnte sie nicht finden. Das Gehölz ging in ein Wäldchen über, das sich an der Hangseite eines sanften Hügels erstreckte. »Gertrud! Gertruuud!«
    Wo steckte sie nur? Nachdem ich mich in dem Wäldchen umgesehen hatte, erklomm ich den Hügel. Er war ein Vorläufer des Schwarzwaldes, wunderschön mit Buschwindröschen und Scharbockskraut bewachsen. Und mit einem Findling am höchsten Punkt.
    Vor diesem Findling lag Gertrud.
    Obwohl ich sofort sah, dass sie tot war, konnte ich es zunächst nicht glauben. »Gertrud«, sagte ich leise, »wo bleibst du nur?« Ich kniete neben ihr nieder und schloss ihr die Augen. Sie war noch ganz warm. Ihr Gesicht, in den letzten Tagen so häufig schmerzverzerrt, sah friedlich aus. Als hätte sie im Tod noch die Krankheit

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