Der Medicus von Heidelberg
meinst.« Ich nahm meinen Hund entgegen, überlegte kurz und schob ihn mir dann unter die Achsel, denn dort ist die Körperwärme am größten. »Schlaf schön«, sagte ich leise zu ihm. »Und du, Odilie, solltest jetzt auch zu schlafen versuchen.«
»Ja, gut.«
»Willst du meine Kutte haben? Du könntest dich damit zudecken.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Sie ist mir nicht sauber genug.«
Ich wurde wütend. »Willst du etwa damit sagen, dass ich stinke?«
Odilie schwieg.
Zum dritten Mal hatte sie meine Fürsorge zurückgewiesen. »Dann friere doch!« Ich nahm die Kutte und deckte mich selbst damit zu. Kurz darauf fiel ich in einen Dämmerschlaf, aus dem ich immer wieder erwachte. Nicht nur, weil die Kälte mir von unten in die Glieder kroch, sondern auch, weil ich Angst vor Wegelagerern hatte und weil ich mich mächtig über Odilie ärgerte.
Doch spät in der Nacht kam ich zu der Erkenntnis, dass unsere Streitereien kindisch waren, und ich deckte sie mit einem Teil meiner Kutte zu. Sie ließ es geschehen. Vielleicht, weil sie schlief.
Mit dem ersten Licht des neuen Tages erhoben wir uns und tranken Wasser aus einem nahegelegenen Bach. Es schmeckte frisch und klar und füllte unsere Mägen. Dann marschierten wir weiter. Wir gingen mehrere Stunden, und mit jeder Stunde, die wir unterwegs waren, wurde unser Hunger größer. Gegen Mittag, als er zu sehr in unseren leeren Mägen nagte, überwand ich meinen Stolz und erbettelte ein halbes Dunkelbrot von den Knechten und Mägden auf den Feldern. Ich war ihnen aufrichtig dankbar – auch dafür, dass sie mich lehrten, dass die, die wenig haben, viel freudiger geben als die, die alles haben.
Nachdem ich das Brot gebrochen hatte, nahm Odilie ihren Teil der Mahlzeit wortlos entgegen. Offenbar war sie immer noch der Meinung, dass alles, was ich für sie tat, selbstverständlich sei. Ich sagte dazu nichts, nahm mir aber vor, mich nicht mehr über ihr Verhalten zu ärgern. Ich wollte sie zu ihrem fürstlichen Schloss bringen und sie bis dahin wie eine Fremde behandeln. Dann würde mich ihr distanziertes Gehabe nicht mehr treffen können.
Auf unserem weiteren Weg nach Heidelberg überquerten wir den Fluss Zaber und am nächsten Tag die Lein. Zur Rechten ließen wir Heilbronn hinter uns und wanderten den lieblichen Hügeln des Kraichgaus entgegen. Der Frühling war endgültig ins Land gezogen, der Himmel war blau, die Luft wie Seide. Wir gingen stetig nach Nordwesten, passierten Felder, Wälder und hohe Lösswände, in denen summende Bienen ihre Nester angelegt hatten. In einer kleinen Flussau stießen wir auf die Elsenz, deren Verlauf uns über Sinsheim nach Neckargemünd und damit in den Osten von Heidelberg bringen sollte.
Am vierten April, dem Gründonnerstag des Jahres, befanden wir uns kurz vor Sinsheim. Eigentlich hatte ich vorgehabt, rechtzeitig am Ostersonntag in Heidelberg zu sein, doch in den letzten zwei Tagen waren wir kaum vorangekommen. Grund dafür waren weder Hunger, Schwäche oder Müdigkeit, sondern eine ernstzunehmende Erkrankung, unter der Odilie offensichtlich litt.
Als sie wieder einmal mit schmerzerfülltem Gesicht um eine Pause bat und im Gebüsch am Wegrand verschwinden wollte, beschloss ich, keine ausweichenden Antworten mehr hinzunehmen, wenn ich sie nach der Ursache ihrer Pein fragte. »Was fehlt dir, Odilie?«
»Nichts.«
»Das hast du mir schon ein paarmal gesagt. Warum lügst du mich an? Du hast doch Schmerzen?«
»Lass mich in Ruhe.«
»Dein Hochmut wird nur noch von deinem Dickkopf übertroffen. Aber ich werde dich nicht in Ruhe lassen. Ich habe ein Recht darauf, zu wissen, wie es um dich steht. Schließlich reisen wir zusammen.«
»Warte hier, ich bin gleich wieder da.«
Ich musste an Gertrud denken, die ihren letzten Weg ebenfalls allein gegangen war, und sagte: »Wenn du jetzt gehst und mir vorher nicht sagst, was dir fehlt, gehe ich mit. Dann wird sich ja herausstellen, was mit dir los ist.«
»Das wagst du nicht.«
»Und ob ich das wage. Also, heraus mit der Sprache. Wo sitzt der Schmerz?«
»Ich … ich mag nicht darüber sprechen.«
In ihrem Ton lag ein Hauch von Verzweiflung, der mich augenblicklich milde stimmte. »Versuche es. Dann kann ich dir vielleicht helfen.«
»Das glaube ich nicht. Du bist ja … anders als ich.«
Langsam ahnte ich, worunter Odilie litt. Wahrscheinlich hatte sie sich in einer der kalten Nächte den Unterleib verkühlt. Wenn dem so war, hatte sie recht. Ich konnte ihr nicht helfen.
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