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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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gesprochen?«
    »Ja, das war seltsam.«
    »Was war seltsam?«
    »Sie sagte, die einzelnen Teile im Körper wären lebende Wesen, das Herz, die Lunge, die Leber, und nur die Wenigsten wären in der Lage, mit ihnen zu sprechen und zu hören, was sie zu sagen hätten. Sie aber könne es.«
    »Das ist in der Tat absonderlich.« Ich hatte schon einiges an Theorie über jene Körperteile gelesen, die bei den alten Griechen
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genannt wurden, dass diese aber in der Lage seien, zu sprechen, war mir gänzlich neu.
    »Sie hat mir den Puls gefühlt und dann ihre Hand aufgelegt, du weißt schon, wo, und gesagt: ›Ich muss fühlen, was dein Leib spricht. Er teilt meiner Hand durch Ströme mit, ob er zur Heilung bereit ist. Ja, jetzt spricht er! Jetzt!‹«
    Mir lag auf der Zunge, dass ich das Ganze für großen Unsinn hielt, aber ich wollte Odilie nicht unterbrechen, und deshalb schwieg ich.
    »Die Meisterin schloss die Augen und ließ ihre Hand kreisen, schneller und immer schneller, und dann stieß sie hervor: ›Ich höre, ich höre, ich höre!‹ Dann öffnete sie die Augen und zog ihre Hand zurück. ›Deine Blase hat zu mir gesprochen. Sie sagt, dass die Inhaltsstoffe meines Kräuteraufgusses richtig sind, sie sagt, dass die Wärme des Dampfes die Schmerzen verteilen wird, bis nichts mehr von ihnen zurückgeblieben ist. Sie sagt, dass die Zahl der Sitzbäder drei betragen soll, des Morgens, des Mittags und des Abends. Sie sagt, dass sieben Tage vergehen sollen, bis die Schmerzen sich in nichts aufgelöst haben. Das alles sagt sie, und wir, wir wollen ihr glauben. Glaubst du an das, was deine Blase dir sagt?‹, und ich antwortete: ›Ja.‹«
    Odilie sah mich fragend an. Sie wollte wissen, was ich von der Behandlung hielt.
    »Hauptsache, die Dämpfe helfen«, sagte ich. Und weil das etwas lahm klang, fügte ich schnell hinzu: »Die Meisterin weiß sicher, was sie tut.«
    »Das hoffe ich.«
    »Der Leibarzt deines Vaters würde vermutlich anders vorgehen«, sagte ich, um auch Odilies letzte Bedenken zu zerstreuen. »Er würde von den Säften des Körpers sprechen, die in ein Ungleichgewicht geraten seien, und die Notwendigkeit betonen, deren Eukrasie, also deren Gleichgewicht, wiederherzustellen. Vielleicht würde er sogar zur Anwendung ebenjener Kräuter raten, die auch die Meisterin empfiehlt, und dann käme alles auf dasselbe hinaus.«
    Odilie antwortete nicht. Vielleicht brauchte sie Zeit, um meine Gedanken zu verstehen.
    »Wenn also die Therapie auf dasselbe hinausläuft«, fuhr ich fort, »scheint mir der Weg der Diagnose von zweitrangiger Bedeutung. Siehst du das nicht auch so?«
    Odilie antwortete wieder nicht.
    »Odilie?«
    Sie war eingeschlafen.
     
    Noch bevor der erste Hahn am anderen Morgen krähte, führte ich das aus, was ich mir in der Nacht zuvor überlegt hatte. Ich brauchte dazu die Erlaubnis und die Hilfe der Meisterin, und ich war glücklich, dass ich beides umgehend bekam. Dann stand ich vor Odilies Bett. Sie schlief noch. Fast tat es mir leid, sie wecken zu müssen. »Odilie, wach auf«, sagte ich leise und rüttelte sie sanft am Arm. »Odilie!«
    Sie schlug die Augen auf.
    »Sieh mal, was ich hier habe.« Ich hielt einen hölzernen Schemel hoch, in den ich eigenhändig ein Loch gesägt hatte. Das Loch war nicht besonders rund und auch nicht besonders schön, aber ich war sicher, es würde seinen Zweck erfüllen.
    »Ein Schemel?« Odilie wunderte sich.
    »Richtig. Auf ihn wirst du dich setzen, und darunter wird die Schüssel mit den Heildämpfen stehen. So kann die Behandlung bequem im Sitzen erfolgen.« Ich stellte den Schemel neben das Bett und füllte die Schüssel mit frischem, heißem Kräuteraufguss. »Ich schlage vor, wir probieren es gleich einmal aus.«
    »Ja, wenn du meinst. Aber erst musst du hinausgehen, weil ich mich anziehen will.«
    »Natürlich.« Ich verließ die Kammer. Diesmal brauchte ich nicht lange zu warten, denn nur ein paar Augenblicke später rief Odilie von drinnen: »Ich bin fertig.«
    Ich ging hinein und staunte. Sie saß da wie auf einem Thron. Ihr blaues Kittelkleid ergoss sich wie eine königliche Robe bis zum Boden. Von dem Schemel und der Schüssel war keine Spur zu sehen. »Du siehst aus wie eine Prinzessin«, entfuhr es mir.
    »Ich bin eine Prinzessin.«
    »Ich weiß.«
    Wir blickten uns an. »Ja, äh«, sagte ich, »ich habe dir noch eine Sanduhr von der Meisterin mitgebracht. Wenn der Sand nach dem vierten Teil einer Stunde durchgelaufen ist, kannst du wieder

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