Der Medicus von Saragossa
die Männer und Frauen des Stammes begegneten ihm mit Hochachtung und Zuneigung. Um so unbehaglicher war Jona deshalb zumute, als er nun erfuhr, daß ein so freundlicher und kluger Mensch sich als Narr seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen.
Mingo sah ihm seine Verlegenheit an. »Es war eine Arbeit, die mir viel Vergnügen bereitet hat, das kann ich dir versichern. Ich war ein sehr guter Narr. Mein mißgestalteter Zwergenkörper hat meinem Volk geholfen zu gedeihen, denn bei Hofe erfuhr ich von allen Gefahren, die die Roma meiden sollten, wie auch von Mög lichkeiten der Beschäftigung für sie.«
»Was für ein Mensch ist Boabdil?« fragte Jona.
»Ein grausamer. In seiner Zeit als Sultan brachte man ihm nur wenig Liebe entgegen. Er lebte im falschen Land, denn die militärische Macht des Islam gibt es heute nicht mehr. Die Moslems waren vor fast achthundert Jahren aus Afrika nach Iberien gekommen und hatten ganz Spanien islamisch gemacht. Bald darauf begehrten als erste die christlichen Basken gegen sie auf, um ihre Unabhängigkeit zurückzugewinnen, und die Franken vertrieben die Mauren aus dem nordöstlichen Spanien. Für sie war das der Anfang vom Ende. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte gewannen christliche Armeen einen Großteil Iberiens für den Katholizismus zurück.
Der maurische Sultan von Granada, Muley Hacen, weigerte sich, den katholischen Monarchen Tribut zu zahlen, und begann im Jahr 1481 einen Krieg gegen die Christen, bei dem ihm die befestigte Stadt Zahara in die Hände fiel. Boabdil, sein Sohn, entzweite sich mit seinem Vater und suchte eine Zeitlang Zuflucht am Hof der katholischen Monarchen, doch dann starb Muley Hacen, im Jahre 1485, und mit Hilfe loyaler Untertanen schaffte es Boabdil, den Thron zu übernehmen.
Und nur wenige Monate später«, ergänzte Mingo, »kam ich in die Alhambra, um ihm beim Regieren zu helfen.«
»Wie lange hast du ihm als Hofnarr gedient?« fragte Jona. »Fast sechs Jahre. Nachdem Ferdinand und Isabella Ronda, Marbella, Loja und Malaga eingenommen hatten, gab es in ganz Spanien nur noch eine einzige islamische Stadt – Granada. Ihnen war es ein Dorn im Auge, daß der Moslem Boabdil auf einem Thron saß, und zu seinen Füßen Mingo Babar, der ihm geistreiche Ratschläge ins Ohr flüsterte. Granada wurde belagert, und schon bald durchlebten wir hungrige Tage in der Alhambra. Ein Teil der Bevölkerung kämpfte tapfer trotz leerer Mägen, aber am Ende des Jahres war klar, daß unser Schicksal besiegelt war. Ich erinnere mich an eine kalte Winternacht, in der ein großer silberner Mond im Fischteich schimmerte. Nur Boabdil und ich waren im Thronsaal.
›Nun mußt du mein Leben lenken, weiser Mingo. Was soll ich tun?‹ fragte der Sultan.
›Ihr müßt Eure Waffen niederlegen und die katholischen Monarchen zu einem Festmahl einladen, Majestät. Erwartet sie im Myrtenhof, um sie feierlich zu begrüßen und in die Alhambra zu geleiten‹, sagte ich.
Boabdil sah mich an und lächelte. ›Gesprochen wie ein wahrer Narr‹, sagte er. ›Denn jetzt, da die Tage meines Herrschens so gut wie vorüber sind, ist mir meine Würde kostbarer als Rubine.
Sie sollen kommen und mich hier im Thronsaal sitzen sehen wie einen Herrscher, und in diesen letzten Augenblicken werde ich Stolz zeigen, wie ein wahrer Kalif.‹
Genau das tat er. Am 2. Januar 1492 unterzeichnete er die Unterwerfungsurkunde in seinem Thronsaal. Als er ins Exil nach Afrika floh, woher seine berberischen Vorfahren vor so langer Zeit gekommen waren, hielten ich und andere es für weise, die Alhambra ebenfalls zu verlassen«, schloß Mingo.
»Hat sich für Granada viel verändert, seit die Christen wieder an der Macht sind?« fragte Jona.
Mingo zuckte die Achseln. »Die Moscheen sind jetzt Kirchen.
Darin sind sich alle Religionen gleich: Sie glauben, daß sie allein das Ohr Gottes besitzen.« Er grinste. »Für den Herrn muß das ziemlich verwirrend sein!« sagte er.
An diesem Abend sah Jona, daß die Roma gemeinsam aßen. Männer und Frauen saßen einträchtig an den Feuern und kochten und brieten Fleisch und Geflügel, schöne Stücke, die troffen vor köstlichem Saft und die Luft mit ihrem Aroma erfüllten. Man aß gut bei den Roma, und die prallen Schläuche, die herumgereicht wurden, waren voll wohlschmeckenden, vollmundigen Weins. Nach dem Essen wurden Instrumente aus den Höhlen geholt, Trommeln, Gitarren, Zimbeln, Violen und Lauten, und nun erklang eine wilde Musik, die so neu war für Jona
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