Der Medicus von Saragossa
daß sie sich hoch oben auf dem Hügel befanden. Unter ihnen lag die Stadt Granada, ein Häusermeer aus rosafarbenen und weißen Würfeln, das Ganze umgeben von einem Kranz aus Bäumen. »Eine schöne Stadt«, sagte Jona, und Mingo nickte.
»Ja. Granada wurde von den Mauren erbaut, und so kommt es, daß die Behausungen im Inneren wunderschön verziert sind, von außen aber eher schlicht wirken.«
Oberhalb der Stadt, auf der Kuppe eines Hügels, der viel kleiner war als der Hügel mit den Höhlen, erhob sich eine Anlage mit rosenroten Türmen und Zinnen, die Jona ob ihrer Anmut und Erhabenheit den Atem verschlug.
»Was ist das?« fragte er und deutete hinüber.
Der Zwerg lächelte. »Nun, das ist die Zitadelle und der Palast, den man als die Alhambra kennt.«
Gleich an diesem ersten Tag wurde Jona bewußt, daß er in einer Gruppe einzigartiger Menschen gelandet war, und er stellte viele Fragen, die Mingo gutmütig und geduldig beantwortete.
Die Höhlen befanden sich in einem Hügel mit dem Namen Sacromonte. »Der heilige Berg«, sagte Mingo, »und er heißt so, weil hier Christen in der Frühzeit ihrer Religion den Märtyrertod starben.« Der Mann berichtete, daß sein Volk, Zigeuner eines Stammes, der sich Roma nannte, in den Höhlen lebte, seit es nach Spanien eingewandert war. Damals war Mingo noch ein kleiner Junge gewesen.
»Woher kommen die Roma?« fragte Jona.
»Von dort«, antwortete Mingo und beschrieb mit seinem Arm einen weiten Kreis, der die ganze Welt umschloß. »Vor Urzeiten – das ist lange, lange her – kamen sie aus einem Land weit im Osten, wo der Ganges fließt, ein großer, heiliger Fluß. In jüngerer Zeit sind sie durch Frankreich und Spanien gezogen, bevor sie hierherkamen. Aber als sie dann Granada erreichten, ließen sie sich hier nieder, denn die Höhlen eignen sich vorzüglich als Behausungen.«
In der Tat waren die Höhlen trocken und luftig. Einige waren kaum größer als eine Kammer, andere dagegen waren wie zwanzig Zimmer hintereinander und reichten tief in den Hügel hinein. Sogar Jona, der keine Ahnung von militärischen Dingen hatte, sah sofort, daß die Anlage sich im Fall eines Überfalls sehr gut verteidigen ließ. Mingo sagte, daß viele der Höhlen durch Felsspalten oder natürliche Gänge miteinander verbunden seien, was vielfältige Verstecke oder Fluchtmöglichkeiten bot, sollte dergleichen je nötig werden.
Die füllige Frau in Mingos Höhle war seine Gattin Mana. Als sie ihnen Essen brachte, erzählte der kleine Mann Jona stolz, daß er und Mana vier Kinder hätten, von denen zwei bereits erwachsen seien und woanders lebten.
Mingo spürte, welche Frage Jona auf der Zunge lag, und er grinste.
»Alle meine Kinder sind normal groß«, sagte er.
An diesem Tag lernte Jona viele Roma kennen. Einige kamen von einer Weide im Tal hochgeschlendert, wo sie Pferde hielten. Jona nahm an, daß sie als Pferdezüchter und -händler ihr Brot verdienten.
Einige hatten Anstellungen in der Nachbarschaft, andere arbeiteten an Tischen vor den Höhlen, wo sie Kochtöpfe, Gerätschaften und Werkzeuge flickten, die sie in den Häusern und Geschäften Granadas eingesammelt hatten. Jona bereitete es großes Vergnügen, den Metallarbeitern zuzusehen, denn das Schlagen ihrer Hämmer erinnerte ihn an Helkias Toledanos Werkstatt.
Die Roma waren liebenswürdig und gastfreundlich, und sie akzeptierten Jona sofort, weil Mingo ihn mitgebracht hatte. Während des ganzen Tages kamen Angehörige des Stammes zu dem kleinen Mann, um mit ihm über ihre Probleme zu sprechen. Jona war nicht überrascht, als er zur Mittagszeit erfuhr, daß Mingo der Häuptling der Roma war, der Woiwode, wie sie es nannten.
»Und wenn du sie nicht regierst, arbeitest du dann mit den Pferden, oder flickst du Kessel wie die anderen Männer?« »Ich habe das alles natürlich in meiner Jugend gelernt. Aber bis vor kurzem habe ich da unten gearbeitet«, sagte er und deutete in Richtung Granada.
»In der Stadt? Was für eine Art von Arbeit?«
»In der Alhambra. Ich war ein Schelm.«
»Wie meinst du das, ein Schelm?«
»Ich war der Narr am Hof des Sultans.«
»Ist das wahr?«
»Es ist die reine Wahrheit, mein Freund, denn ich war der Hofnarr des Sultans Boabdil, auch bekannt als Mohammed XI., der letzte maurische Kalif von Granada.«
Hatte man sich erst einmal an den ungestalten Körper gewöhnt, konnte man für das beeindruckende Wesen dieses Mannes nur Bewunderung empfinden. Sein Gesicht strahlte Würde aus, und
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