Der Medicus von Saragossa
wie die freie und sinnliche Anmut, mit der die Roma tanzten. Es erfüllte ihn mit großem Glück, nach so langer Zeit der Einsamkeit wieder Männer und Frauen um sich zu haben.
Die Roma waren ein gutaussehendes Völkchen. Sie trugen leuchtendbunte Kleidung und besaßen eine tiefbraune Haut, hübsche dunkle Augen und lockige schwarze Haare. Er fühlte sich hingezogen zu diesen fremdartigen Menschen, die offenbar all die einfachen Freuden der Welt kannten und zu genießen wußten.
Voller Dankbarkeit sprach Jona mit Mingo über ihre Liebenswürdigkeit und Gastfreundlichkeit.
»Es sind gute Menschen, die keine Angst haben vor den gadje, wie wir alle Fremden nennen«, sagte Mingo. »Auch ich war ein ga dje, ich bin kein geborener Roma. Ist dir vielleicht aufgefallen, daß ich anders aussehe als sie?«
Jona nickte. Er wußte, daß Mingo nicht seine Größe meinte. Sein Haupthaar war stellenweise grau, denn er war kein junger Mann mehr, aber größtenteils war es fast gelb, viel heller als die Haare der anderen Roma, und seine Augen hatten die Farbe des strahlenden Himmels.
»Ich wurde dem Stamm übergeben, als er in der Nähe von Reims lagerte. Ein Edelmann kam zu ihnen mit einem Säugling, der mit langen Armen und kurzen Beinen auf die Welt gekommen war. Der Fremde schenkte den Zigeunern eine prallgefüllte Börse, damit sie mich bei sich aufnahmen.
Das war mein Glück«, fuhr Mingo fort. »Wie du weißt, ist es üblich, ein Kind, das so mißgestaltet auf die Welt kommt wie ich, zu erdrosseln. Aber die Roma hielten ihre Neuerwerbung in Ehren. Sie verheimlichten mir nie meine Herkunft. Ja, sie beharren sogar darauf, daß ich zweifellos von hoher Geburt sein müsse, vielleicht sogar ein Sproß des französischen Königshauses. Der Mann, der mich ablieferte, trug feine Kleidung sowie Rüstung und Bewaffnung, und er hatte eine aristokratische Redeweise.«
Jona fand, daß der kleine Mann tatsächlich noble Gesichtszüge hatte. »Hast du nie mit Bedauern daran gedacht, welch anderes Leben du hättest führen können?«
»Nie«, sagte Mingo. »Mag sein, daß aus mir ein Baron oder ein Herzog hätte werden können, aber es war ebensogut möglich, daß man mich gleich nach der Geburt erdrosselt hätte.« Seine blauen Augen waren ernst. »Ich bin kein gadje geblieben. Mit der Milch der Amme, die mir zur Mutter wurde, trank ich die Seele der Roma in meinen Körper. Alle hier sind meine Verwandten. Ich würde sterben, um meine Roma-Brüder und Schwestern zu beschützen, so wie sie auch für mich sterben würden.«
Jona blieb viele Tage bei dem Volk, er sonnte sich in der Wärme ihrer Kameradschaft, und nachts schlief er allein in einer leeren Höhle.
Um dem Stamm seine Gastfreundschaft zu vergelten, setzte er sich zu den Kesselflickern und half ihnen bei ihrer Arbeit. Sein Vater hatte ihm geduldig die Grundzüge der Metallbearbeitung beigebracht, und die Roma waren hoch erfreut, von ihm einige von Helkias' Techniken zur Verbindung von Metallteilen mit dichten, glatten Nähten lernen zu können. Auch Jona lernte von den Handwerkern, indem er ihnen Techniken abschaute, die jahrhundertelang vom Vater auf den Sohn übergegangen waren.
Eines Abends, nach der Fröhlichkeit ihres Musizierens und Tanzens, nahm Jona selbst eine Gitarre zur Hand und begann zu spielen. Anfangs war er zögerlich, doch bald erinnerten sich seine Finger an alte Fertigkeiten. Er spielte die Musik der Pijutim, der gesungenen Psalmen der Synagoge: Jotzer, die erste Anrufung vor dem morgendlichen Schema; Sulat, die nach dem Schema gesungen wird; Kerowa, die Begleitung der ersten drei Anrufungen der Amidah; und dann die betörende Selicha, den Reuegesang des Versöhnungstags.
Als Jona zu Ende gespielt hatte, berührte Mana sanft seinen Arm, während die übrigen sich verstreuten und in ihren Höhlen verschwanden. Er sah, daß Mingo ihn mit seinen weisen, ernsten Augen musterte.
»Ich glaube, das waren hebräische Melodien. Traurig gespielt.« »Ja.« Ohne zu verraten, daß er nicht konvertiert war, erzählte Jona ihm von seiner Familie und dem schrecklichen Ende, das sein Vater Helkias und sein Bruder Meir gefunden hatten.
Mingo war erschüttert. »Das Leben ist wunderbar, aber es ist auch unweigerlich grausam.«
Jona nickte. »Es wäre mein größter Wunsch, das Reliquiar meines Vaters von den Dieben zurückzuholen.«
»Das dürfte ziemlich aussichtslos sein, mein Freund. Deiner Beschreibung nach zu urteilen, ist das ein einzigartiges Stück. Ein
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