Der Meister
Stadt ein, überschüttete ihn nicht nur mit Budweiser, sondern auch mit Champagner – in Maßen, aber großzügig. »Freilich«, sagte der Meister später, »hatte ich zunächst gewisse Befürchtungen. Du verstehst. Daß er gewisse andere Interessen an mir hätte.«
»Du meinst?«
»Ja. Aber keine Rede davon. Das merkt man. So elegant höflich, wie er ist, sind zwar heute fast nur noch Homosexuelle. Aber – nein. Ich glaube eher, der Herr Dr. Dorpat ist ein großer Damenfreund. Wie er – dezent, aber mit deutlicher Kennerschaft – der Bedienung ins Decolleté gelugt hat …«
Zurückhaltend zwar, aber mit freundlichem Interesse fragte Dr. Dorpat den Meister nach seinen Lebensumständen, vor allem nach seinem Studium, ließ mit keiner Miene erkennen, daß er merkte, der junge Mann da ist ein armer Schlucker und auf dem besten Weg, ein ewiger Student zu werden. Seinerseits berichtete er mit sympathischer Bescheidenheit, ja, wohl sogar Untertreibung, daß er Geschäftsmann gewesen sei, Unternehmer, »von einem gewissen Erfolg beglückt«, das Familienunternehmen, das zum Teil in Österreich, zum Teil in den USA angesiedelt sei, seinem Sohn übergeben habe und sich nun seinem Steckenpferd widme, der Musik. Nicht nur der Musik, auch der Wissenschaft von der Musik. Er wolle da wirklich eindringen.
»Und«, er lachte, »es mir im übrigen gutgehen lassen. Noch ein Gläschen, mein junger Freund?«
Er sei dabei, rückte er dann heraus, ein Buch über Jean Sibelius zu schreiben.
Der Meister zuckte zusammen. Adorno lebte damals noch. Das sagt wohl alles. Sibelius wurde in der Musikwissenschaft so wenig erwähnt wie der Teufel im Credo.
»Eben«, sagte Dr. Dorpat, »eben drum. Wenn ihn Adorno nicht mag, spricht das schon einmal für Sibelius. Ist Ihnen nie der Verdacht gekommen, daß Sibelius moderner sein könnte als Schönberg?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Und eben dem möchte ich in meinem Buch nachgehen. Aber ich brauche Hilfe. Ich bin kein Musikwissenschaftler. Mir fehlt das Handwerkszeug. Also, Sie verstehen, Notenlesen kann ich schon, aber die feinere, die tiefere Terminologie und so fort. Wollen Sie mir helfen? Sie sollen es nicht umsonst tun und auch nicht im geheimen. Ihre Mitarbeit soll auf dem Titelblatt festgehalten werden.«
Der Meister dachte an seine einzelne Herdplatte in der Dachkammer und an seinen Plattenspieler mit den Läppchen und schluckte.
»Sie brauchen jetzt nichts zu sagen. Ich verstehe, wenn Sie sich’s überlegen wollen. Sehen wir uns morgen? Ich habe zwei Karten für die Oper. Sie müssen wissen, daß ich hier meine Tochter getroffen habe, sie ist in London verheiratet, für sie war die zweite Karte gedacht, aber – nein, Sie brauchen sich nichts zu denken, Barbara macht sich gar nichts aus Oper, leider. Sie ist eher froh, wenn sie ihren alten Tattergreis von Vater nicht begleiten muß.«
Das war jetzt stark unter- oder übertrieben, je nachdem, wie man es sah: Der »Tattergreis« war groß, straff, sichtlich rüstig, daß er ein wenig hinkte, fiel kaum auf.
Ganz berauscht – auch vom Champagner – ließ sich der Meister heimfahren. Ja: heimfahren. Dr. Dorpat hatte ein Taxi kommen lassen und die Fahrt im voraus bezahlt. Und am nächsten Tag also ging der Meister mit Dr. Dorpat in die Oper, mußte nicht um Studentenkarten anstehen, ging peinlich berührt, hatte ich das Gefühl, unangenehm wegen des Glücksumstandes, der ihn ereilt hatte, an uns Wartenden vorbei. Danach wieder ein Abendessen in einem anderen teuren Lokal, wobei der Meister die Tochter kennenlernte: »Sehr gepflegt, aber mir wäre sie zu lang und zu dünn.«
Ja, und dann sagte der Meister zu.
»Es wäre doch der reinste Schwachsinn, Mensch, dieses Angebot nicht anzunehmen.«
»Aber Sibelius?«
»Unter den Umständen wäre mir Ludwig Gruber recht und ›Mei Muatterl war a Weanerin‹ Opus 1000.«
*
Nach Winterthur fuhr der Meister nicht mit dem Fahrrad mit Hilfsmotor, sondern im Schnellzug (so hieß das damals noch) und erster Klasse. Die Fahrkarte hatte ihm Dr. Dorpat geschickt. Auch ein Vorschuß war eingetroffen. Der Meister kaufte sich davon eine neue Hose. Und die Taschenpartiturder 5. Symphonie von Sibelius.
Sie arbeiteten vierzehn Tage miteinander an dem Buch, kamen, so der Meister , ein gutes Stück vorwärts. Und Dr. Dorpat verwöhnte den Meister , brachte ihn in einer viersternigen Park-Hotel-Suite unter und ihm eidgenössisches Wohlleben nahe.
Daß der Meister für diese Reise sein
Weitere Kostenlose Bücher