Der Meister
Troubadourgesangs einzusehen. Die vorhandenen Kopien und Umschriften dieses Gesangs in der Literatur waren dem Meister nicht genau genug. Vier Tage brauchte er hin, vier Tage zurück. Wir vermuteten, daß er in Heuschupfen übernachtete.
Er jammerte nie. Er ging so sparsam mit dem Wenigen um, das ihm zur Verfügung stand, war auch in seiner Sparsamkeit Perfektionist, und es blieb genug für ein Bier übrig, wenn wir abends nach einem Seminar, einem Konzert oder Theaterbesuch in einem der Stammlokale saßen, in der Hopfenperle etwa oder in Helmut’s Gondel, in welchem Lokal der Meister nicht müde wurde, über den falschen Apostroph zu lästern. Aber Helmut von der Gondel führte – sehr selten damals – das echte Budweiser (also nicht das schauerliche amerikanische Bud, ein Getränk, das eigentlich nur per Gefahrentransport ausgeliefert werden dürfte, sondern das echte tschechische Bier). Das schätzte der Meister . Auch beim Bier Perfektionist.
Das feine Kaffeehaus nahe dem Theater in der Innenstadt gehörte eigentlich nicht zu unserem – wenn ich als Rand- und Gasthörer mit dieser ersten Person pluralis auch mich umfassen darf – gastronomischen Bereich, aber einmal, und das war, wie sich später herausstellte, wohl ein schicksalsträchtiger Tag für den Meister , saßen wir doch nach dem Gastspiel einer hochmodernen, vielgepriesenen englischen Stegreiftruppe in jenem feineren Kaffeehaus. Das Gastspiel durfte keinesfalls versäumt werden, wenn man danach noch mitreden wollte. Wo sind die wohl hingekommen, die da zum Teil nackt auf der Bühne herumhüpften und unter anderem auf offener Bühne ein Linsengericht kochten und es warm an die Zuschauer verteilten?
Es war ziemlich scheußlich, das Linsengericht. Was sie spielten ebenfalls, und es ist deshalb auch in die Tiefe der Jahre versunken.
*
Als kriminell betrachtete er es nicht, nicht einmal als Kavaliersdelikt, sondern quasi als Notwehr.
Es gab Studentenkarten für ein paar Pfennige. Da mußte man anstehen, rechtzeitig dort sein, sich geschickt vordrängeln und anderseits aufpassen, daß sich nicht andere geschickt und unmerklich vordrängelten. Da konnte der Meister ganz schön giftig werden, wies den Drängler mit seiner hohen, scharfen Stimme zur Ordnung. Fast immer half das. Sich selber vorzuschlängeln war etwas anderes. Wenige Minuten vor Beginn der Vorstellung wurden nämlich die nicht verkauften Karten für die erwähnten paar Pfennige an die Studenten (gegen Ausweis) abgegeben. Anders hätte sich der Meister keinen Theater- oder Konzertbesuch leisten können.
Oft, besonders bei aufsehenerregenden Theaterereignissen oder Konzerten stand AUSVERKAUFT an der Kasse. Ein paar Unbeirrte warteten zwar trotzdem, es mochte ja sein, daß einem das Glück lachte, und eine bestellte Karte oder zwei wurden nicht abgeholt. Das kam selten vor.
Der Meister perfektionierte, schon aus Gründen seines engen Etats, das, was die Italiener »fare il portoghese« nennen. Warum gerade die Portugiesen in Italien zu dem Ruf kommen, sich schwarz , ohne Eintrittskarte, in eine Veranstaltung hineinzuschwindeln oder in Bahn und Tram schwarzzufahren, hat noch niemand hinreichend erklärt. Gehen alle Portugiesen schwarz ins Theater? Bleiben in Portugal alle Billetten ungenutzt an der Kasse liegen, während der Zuschauerraum voll ist? »Dann können wir die Billetten ja gleich für morgen verwenden …« Aber morgen passiert das gleiche. Sparen sich die portugiesischen Theater dann das Billettendrucken?
Rätsel über Rätsel. Ich war in Portugal, dort aber nicht im Theater, konnte das also nicht nachprüfen. (Der Meister hätte es nachgeprüft.)
Der Meister war ein ausgepichter Meister als »portoghese«. Der primitivste Trick, den der Meister aber schon beinahe verachtete, war der, daß einer ordentlich mit einer Karte hineinging, drinnen von einem, den er kannte, flüchtig oder gut, die Karte erbat und mit zwei Karten (eine versteckt, versteht sich) nochmals hinausging. »Muß nur eben schnell …«, zum Saaldiener sagte, dem wartenden Meister die zweite Karte gab – und so fort. Das sogenannte »Doppel-Karten-Prinzip«. Funktionierte nicht immer, weil die Saaldiener selbstverständlich auch nicht blöd waren.
»Selbst mir«, sagte Carlone in der Madonna , »wo ich doch wirklich mit ihm ganz eng befreundet war, hat er nie verraten, wo zum Beispiel das Schlupfloch im Schauspielhaus war, durch das er, funktionierte kein anderer Trick, in den Zuschauerraum gelangte.
Weitere Kostenlose Bücher