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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosendorfer Herbert
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Studium hintanstellte, fiel bei seiner Studiengeschwindigkeit nicht ins Gewicht.
    *
    Danach bestellte oder berief oder wie man sagen soll – nein, so grob hätte Dr. Dorpat nicht einmal gedacht – bat er nicht den Meister, nach Winterthur zu kommen, sondern reiste zu ihm, das Manuskript im Gepäck. So lernte auch ich Dr. Dorpat flüchtig kennen.
    Sibelius und Adorno.
    Damals war Adorno so etwas wie die alleinseligmachende Weltsicht. »Papst der Geisteswissenschaften« wäre keine ausreichende Bezeichnung gewesen. Demiurg der Ewigen Wahrheit . Das war Adorno. Wer nicht in seinen Arbeiten Adorno zitierte, war weg vom Fenster. Wer etwas gegen Adorno zu sagen wagte, galt als wissenschaftlicher Underdog.
    Nicht nur wissenschaftlich, auch gesellschaftlich. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
    »Bitte lassen Sie mich in Frieden. Ich habe gehört, Sie mäkeln an der Frankfurter Schule herum.«
    Oder: »Wenn du noch ein Wort gegen Adorno sagst, fliegst du aus meinem Bett.«
    So war das damals.
    Ich bekenne, daß ich außer Musik und Gesellschaft und den Minima Moralia nichts von Adorno gelesen habe, und dann aber noch das Gustav-Mahler-Buch, das bei jenem Seminar mit der Einleitung zum ersten Satz der ersten Symphonie Pflichtlektüre war. Reichen diese drei Werke? Mir reichte und reicht es im Ganzen. Ich habe in der Zeit des Seminars über Mahlers Symphonien damals, obwohl ich in meinem Referendardienst und der – genehmigten – Nebentätigkeit bei einem Rechtsanwalt halbtags genug zu tun hatte, versucht, Adornos Mahler-Buch ins Deutsche zu übersetzen, das heißt herauszufinden, was er mit seinen krausen Sätzen meinte. Dabei fiel mir auf, daß an dem Ganzen außer dem neckisch nachgestellten »sich« (dem sogenannten Adorno-Sich) nichts Besonderes an dem Buch war. Er kannte sich auch offenbar mit der musikalischen Terminologie nicht aus. (Haben Sie das Adorno-Sich bemerkt?) Ich erinnere mich an eins: daß er »Orgelpunkt« mit »Pedalton« verwechselte.
    Was die Minima Moralia betrifft: Alles, was Adorno irgendwie geärgert hat, ist ihm zur Kritischen Theorie geronnen. Hing in einem Hotelzimmer störend ein Bild schief, hat er es sofort und generell auf den »Despotismus der totalitären Ideologien« zurückgeführt und mindestens eine Minima gegen Bilder in Hotelzimmern geschrieben. Hätte man nur das Bild zurechtrücken brauchen, um auch Adornos eigenen Despotismus seiner totalitären Ideologie zurechtzurücken?
    Halte zu Gnaden wegen alldem. Wahrscheinlich verstehe ich es nur nicht, überlasse es aber gern anderen, es zu verstehen. Ich habe aber das Gefühl: Heute? Heute bemühen nicht mehr viele sich (!!) drum.
    *
    Das Buch Dr. Dorpats über Sibelius erschien nie. Der Meister wurde später dann doch sehr oft gebeten, zu Dr. Dorpat in die Schweiz zu kommen, immer erster Klasse im D-Zug, versteht sich. Der Meister genoß es, perfektionierte auch seine Bahnreisen.
    »Es war oft nicht auszuhalten«, sagte Carlone in der Madonna (er hatte eben eine zweite orata mit der Begründung bestellt, daß man nur einmal lebe), »er beherrschte von nun an die Fahrpläne bis ins einzelne. Und wehe, wenn die Wagenfolge mit der Anzeigentafel am Bahnsteig nicht übereinstimmte. Du konntest erleben, daß er rot vor Zorn zum Bahnhofsvorstand eilte, zwar den Zug versäumte, aber eine geharnischte Beschwerde losließ.«
    »Ja, ich erinnere mich auch, daß er gewisse Züge bevorzugte, weil die eine tschechische Garnitur und damit einen tschechischen Speisewagen mitführten, und der Speisewagen Budweiser oder zumindest Pilsner Urquell.«
    »Er nahm Umwege in Kauf, weil er Strecken bevorzugte, auf denen die Schienen noch auf alten Holzschwellen lagen, die den Waggon weicher federn ließen.«
    »Einmal fuhren wir ein Stück gemeinsam«, erinnerte ich mich. »An einem Bahnhof, den wir durchfuhren, stand auf einem Nebengleis eine Lokomotive. Der Meister schaute kritisch hinaus, musterte die Lokomotive, murmelte die daran angebrachte Nummer und: ›Voriges Jahr neu gestrichen und schon wieder so abgeschabt.‹«
    Der Meister , der Perfektionist.
    Aber das Buch erschien nie. Von einem Tag auf den anderen warf eine Krankheit den so aufrechten, stangengraden Dr. Dorpat ins Waagrechte, gefällt wie einen Baum. Dorpat klagte nicht, bot der Krankheit die Stirn, allerdings vergeblich. Für einige Monate verfügte er sich in eine hochspezialisierte Klinik in den USA . Es half nichts. Er ließ sich nach Winterthur zurückbringen. (Er war

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