Der Meister
übrigens kein Schweizer, hatte nur dank finanziellem Unterfutter von den Eidgenossen ein steuerlich warmes Plätzchen eingeräumt bekommen.) Er wurde ein Pflegefall. Seine Vermögensumstände erlaubten selbstverständlich eine luxuriöse Pflege. Aber daß er den mit raschen Schritten heraneilenden Tod bestechen könnte, redete er sich nicht ein.
Er und der Meister arbeiteten bis zuletzt an dem Buch. Aber gegen Ende des betreffenden Jahres verfiel – ebenfalls von einer Stunde zur anderen – auch Dr. Dorpats Geist.
Der Meister erschrak, als er zur vereinbarten Stunde zu Dorpat in dessen Villa kam und er ihn nicht mehr erkannte.
»Sibelius«, sagte der Meister betroffen.
»Was ist Sibelius?« sagte Dorpat mit fremder Stimme.
*
Ich machte mein Staatsexamen, ich zog weg. Ein paarmal noch, seltener werdend, besuchte ich ein Seminar, oft wie der Verlorene Sohn begrüßt; aber auch andere verschwanden aus dem Kreis, wie es eben so geht: schlossen ihre Arbeit ab, bekamen ein Stipendium für Amerika, wechselten an eine andere Universität. Die schöne Helene Romberg war, wie beabsichtigt, in den Schuldienst gegangen – oder war sie, als sie aus dem Kreis ausscherte, schon verheiratet mit meinem ehrgeizigen Kollegen und Einser-Juristen Sigurd Winter? Wenn einer schon Sigurd heißt, dann weiß man ja. Er selber kann nichts dafür, aber so ein Elternhaus färbt entweder lebenslang ab oder stößt einen in den Trotz und die Opposition. Bei Sigurd Winter hatte es abgefärbt. In der Wolle gefärbt. Ich traue ihm zu, nein, ich bin sicher, daß er politisch richtig ausgerichtet war, das karrierefördernde Parteibuch und den ebensolchen Rosenkranz in der Tasche hatte. Nein, den Rosenkranz nicht, noch nicht, erst nach dem bekehrenden Birnenschnaps seitens Pfarrer Rohrdörfers, der selber übrigens jedwedes Parteibuch strikt zurückgewiesen hätte. (Oder dürfen Priester gar kein Parteibuch haben? Ist es seitens der Kirche oder der politischen Parteien nicht erwünscht? Auch so etwas Geheimes wie das Paßphoto von Nonnen: linkes Ohr frei, ohne Kopfbedeckung – so die Vorschrift. Gibt es für Nonnen eine Ausnahme? Es müßte sie geben, denn ohne den – wie sie es nennen – Schleier, barhaupt also, würde man sie ja fast nicht erkennen. Wie kann ich dem auf die Spur kommen? Wie kann ich es zuwege bringen, einen verstohlenen Blick in den Paß einer Nonne zu tun? Überhaupt: Paß. Auch darüber habe ich lang nachgedacht: Kaiser Franz Joseph hatte einen Paß. Das wußte der Göttliche Giselher, behauptete, der Paß sei in einer Ausstellung zu sehen gewesen. In Wien, wo er, der Göttliche, nie war. Beruf bei Franz Joseph: Kaiser und König. Hat heute, zum Beispiel, die Königin von England einen Paß? Oder der Papst? Wenn sie respektive er auf Staatsbesuch geht, muß sie respektive er den Paß vorzeigen, bevor er – worauf man bei Johannes Paul II . immer gewartet hat – die Erde küßt? Sie, die Queen, küßt ja nicht, habe jedenfalls nie etwas davon bei den entsprechenden Fernsehübertragungen gesehen.)
Eine lange Parenthese. Auch Carlone in der Madonna wußte das mit den Paßphotos von Nonnen nicht. »Ob der Meister es gewußt hätte?«
»Womöglich hätte er nicht geruht und gerastet, bis er es herausbekommen hat. Hätte vielleicht frech im Zug – ich stelle mir vor: Er reist zufällig im gleichen Coupé mit einer Nonne, er bemerkt, daß ihre Handtasche offen ist, darin der Paß. Er lenkt die Nonne ab: ›Schauen Sie, da – die Burg, da hat Barbarossa geheiratet!‹ Eine krasse Lüge – also die Burg schon, die zog gerade vorbei, aber der Barbarossa – nein, der hatte diese Burg nie auch nur von außen gesehen. In solchen Fällen schreckte der Meister jedoch vor nichts zurück, auch nicht vor dem Verbiegen historischer Tatsachen.«
»Und wenn keine Burg vorbeizieht?«
»Ja, irgendwas zieht immer vorbei. ›Schauen Sie, ehrwürdige Mutter, was für eine schöne, große Kuhherde.‹ Oder so. Eben. Und ein Griff in die Tasche, schnell mit einer Hand aufgeschlagen … und wieder hineingesteckt.«
»Ja, kann ich mir vorstellen.«
»Und die Nonne sagt zwar: ›Eigentlich interessiere ich mich nicht für Kühe …‹«
»Oder: ›für Barbarossa‹.«
»Aber der Meister weiß es, wie das Paßphoto einer Nonne aussieht.«
»Der Göttliche Giselher allerdings hätte einen langen, allumfassenden und erschöpfenden Vortrag über das Paßwesen in Geschichte und Gegenwart gehalten, in dem nichts, aber auch gar
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