Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
jetzt alles erreicht bei mir. Du bist in all den Jahren an den Einsichten, die nur ich dir gewähren konnte, gewachsen wie nie einer zuvor. Willst du das widerlegen oder gar verleugnen? Sprich!«
»Nein, das leugne ich nicht, daher konnte ich auch für dich mein Bestes geben, ohne dich jemals zu enttäuschen. Gerade aus diesem Grund habe ich es mir verdient, etwas mehr über den Kanonenguß zu erfahren, als über das Leuchten der Schmelze!«
»So spricht nur einer, der sein Verlangen ungezügelt steigert!« hält er mir aufgebracht entgegen. »Was fehlt dir eigentlich? Habe ich dir nicht gerade das Geheimnis der verschiedenen Metallzusammensetzungen und deren Besonderheiten ohne Umschweife erzählt? Willst du dir deine Wege selbst verstopfen, nur weil du glaubst, du könntest alles nachlesen auf dem Pergament? Ich sage dir, die ganze Gießkunst ist von Anfang bis zum Ende die größte geistige und körperliche Anstrengung, die je von Menschen ersonnen worden ist, mit dem einzigen Nachteil, daß Ungeduld wie ein Übermaß an Eifer nie zum ersehnten Ziel fuhren werden. Kanonen sind keine Glocken. Merk dir das!«
Seine Worte dröhnen in meinen Ohren.
»Gut, Onkel, wenn es so ist, wie du sagst, dann kommt also in diesen Tagen vor dem Flammofen die wahre Heiligung des Kanonengusses in allen seinen Phasen über mich«, versuche ich einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.
»Sie beginnt in diesen Tagen für dich! Erst wenn du das mächtige Feuer mit der Festigkeit der Stoffe wie die Schmelze der Legierungen in Einklang gebracht hast, wenn also alle Schwierigkeiten von dir beherrschst werden, die diese Kunst hervorbringt, dann wirst du bald die Großartigkeit, der von dir ersehnten Heiligung im Herzen spüren. Doch bis dorthin ist noch ein weiter Weg! Du tust also gut daran dich erst mal zu zügeln, um dem Privilegium der Verantwortung, das ich dir hier und jetzt gebe, in allen Belangen gerecht zu werden. Was war dein zweiter Punkt?«
»Mein zweiter Punkt?« wiederhole ich. »Ja, meine Meisterprüfung. Wann …?«
»Mein Gott, sollen wir jetzt noch weiter disputieren? Oder können wir endlich daran gehen, die Metallmengen zu berechnen?«
Hans Christoph zieht aus dem Pergamentstapel vorsichtig einzelne Blätter heraus, die er wiederum behutsam ordnet. Zum erstenmal sehe ich ein erstaunliches System. Schnell erkenne ich, daß für jeden Geschütztyp ein Einzelblatt existiert. Vor uns liegen die drei Blätter der Geschütztypen Kartaune, Falkone und Scharfentinl.
»Hier haben wir die Kartaune. Auf diesem Bogen habe ich die genaue Zeichnung mit allen Messungen des Geschützes, einschließlich des Bedarfs an Materialien, beschrieben, und hier unten haben wir den Bedarf an Kupfer und Zinn stehen.«
Warum geht er so hastig über das Geschriebene wie Gezeichnete hinweg?
»Gib her«, möchte ich ihm am liebsten befehlen. Doch wiederum ein Zögern, ein halbherziges Herzeigen seiner Siegel.
Links unten sehe ich eine Tabelle, auf die Christoph mit seinem Finger hinweist. Ich versuche mir die Benennungen über den Spalten einzuprägen, ohne die Zahlen bewußt wahrnehmen zu können:
Gattung des Geschützes, Einsatz Kupfer, Einsatz Zinn, Abgang im Feuer, Gewicht des Rohres, Durchmesser der Rohrbohrung, Länge der Bohrung in Calibern, Gewicht der Kugel von Gußeisen, Tragweite der Kugel in Schritten.
Aus!
Mein Blick auf die obere Hälfte des Pergaments läßt mich gerade noch den Heiligen Rest erkennen. Darauf ist der gesamte weitere Materialienbedarf für die Kartaune angegeben.
Wachs, Eisenzeug, Baum für Spindel, Kernstange, Lehm von Teisendorf …
Gleich hinter jedem Punkt sind die Kosten in Gulden angegeben, und ganz unten in der rechten Ecke erblicke ich die verblassenden Buchstaben ›GL‹, was nur Gregor Löffler heißen kann.
Von den zahllosen Erinnerungen, die mir immerfort durch den Kopf gehen, sobald ich auf den Namen von Hans Christophs Vater stoße, hat die Jahre hindurch eine Erzählung für mich besondere Bedeutung:
Damals saß ich noch im Dämmerlicht der Eindrücke und Geschehnisse der Schwazer Zeit, als Hans Christoph ein Werk von Wulff von Senfftenberg mit dem Titel K UNSTBUCH VON K RIEGS SACHEN gebracht bekam, das 1570 entstand und mit dem er am frühen Nachmittag sichtlich beunruhigt eilends in dieses Zimmer hier entschwand, doch erst am anderen Morgen mit geröteten Augen wieder herauskam. Gesteigert hat sich diese Unruhe ein zweites Mal Anfang 1576, als der Tiroler Karl Schurff von Schönwörth eine
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