Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
die S AN S ALVADOR nicht ein Schiff, das als carrica di munitione di guerra bezeichnet wird?«
»Das ist richtig. Sie war ein Munitionsschiff, und damit liegt sie mit ihrer Masse an Kugeln in der Tat weit über dem Durchschnitt der übrigen Schiffe. Wenn wir davon ausgehen, daß durch die Explosion einiges über Bord gegangen ist, sie aber am ersten Gefechtstag wesentlich weniger an den Kämpfen beteiligt war als die R OSARIO , SO nehme ich an, daß die 2380 Kugeln, die wir aus ihrem Rumpf bergen konnten, etwa 75 Prozent ihres Anfangsbestandes entsprechen. Somit hatte sie 122 Kugeln pro Geschütz zur Verfügung, was eine Ausnahme darstellen dürfte. Mehr als die Hälfte davon war sicher als Reserve für das Guipuzcoa-Geschwader vorgesehen.
Damit verglichen wirken die 1600 Beutekugeln aus dem Bauch der R OSARIO bescheiden. Nun lag diese fast von der ersten Stunde an schwer im Gefecht und dürfte somit ein Drittel ihrer Kugeln verschossen haben. Aber dies bedeutet, daß mindestens bis zu 60 Kugeln pro Geschütz zu Beginn der Schlacht auf ihr vorhanden waren! Und das wird auch für die anderen spanischen Schiffe zutreffen.
Doch sollten wir eines nicht vergessen: Die Sortierung der Kugeln zusammen mit der großen Streubreite ihrer Kalibersorten ergibt ein wesentlich schwächeres Bild. Sie haben Unmengen an kleinen Kugeln für die leichteren Relingsgeschütze an Bord, wogegen ich kaum größere Vorräte an Kanonen- und Feldschlangenkugeln feststellen konnte.«
»Warum dann die Unmengen an Pulver?«
»Bei der riesigen Pulvermenge ist die vorgesehene Landoperation mit eingeplant. Da bin ich mir völlig sicher.«
»Was sprach der Gefangene Vincente Alvarez?« fragt Howard dazwischen.
»Unser redseliger Gast bestätigte meine Vermutung. Er sprach allerdings gleich von 200 Kugeln pro Kanone für die Geschütze der R OSARIO . Wenn das stimmen würde, könnten unsere Durchschnittsmengen von 25 bis 30 Kugeln pro Geschütz schlichtweg in einer Katastrophe enden!«
Der Lordadmiral richtet sich steil auf und blickt durch das Heckfenster auf das milchige Meer:
»Ihr habt recht! Wir alle zusammen, einschließlich des Rates der Königin, können wegen der angeblich geringen Mengen an Beutekugeln aus dem Rumpf der R OSARIO nicht enttäuscht sein, wenn wir umgekehrt befürchten, daß sie überall die gleichen Mengen an Bord haben sollen. Was haltet Ihr wirklich von den 1600 Kugeln?«
»Ich denke, da ist noch viel für uns übrig geblieben, denn Drakes Leute hatten die Decks der R OSARIO schon teilweise abgeräumt, bevor es gelang, den Rest in Torbay schriftlich festzuhalten. Der einzige Fehler, der ihnen unterlief, war der, daß sie nicht gründlich genug abgeräumt haben!«
Howard wendet sich wieder dem Tisch zu, bewegt stumm aber nervös das Pergament dreimal hin und her, bevor er feststellt:
»Alvarez’ Aussagen gewinnen wohl zunehmend an Glaubwürdigkeit. Seid Ihr der gleichen Auffassung?« Sein Ton hat an Schärfe zugenommen.
»Mylord! Befragt darüber Kapitän Whiddon und Sir John Gilberte.«
Plötzlich wuchtet sich Howard in die Höhe.
»Nein! Ihr sagt mir jetzt die Wahrheit! Los, ziert Euch nicht!«
Im selben Moment verliert die Sonne ihre letzte Leuchtkraft. Howards Augenhöhlen wirken schwarz wie zwei Büchsenlöcher. Mir bleibt keine Chance des Ausweichens:
»George Cary, der vorhin wieder an Bord kam, berichtete, daß in Torbay zirka 500 Kugeln verteilt wurden. Ich habe diese Menge in meine Berechnungen nicht mehr einbeziehen können. Außerdem weiß ich, daß Kapitän Whiddon mit seiner R OEBUCK letzte Woche, kurz vor dem Auslaufen gegen die Armada, keine offizielle Ausstattung mit Geschossen aus Dartmouth erhielt. Trotz alledem bin ich mir sicher, daß er morgen mit seiner R OEBUCK in vorderster Linie ein Gefecht sicher überstehen würde.«
Howard drischt mit der Faust auf die Eichenplatte seines Arbeitstisches:
»Dieser verdammte Devonshire-Clan! Ich lasse sie alle in Tilbury in eisernen Käfigen ausstellen. Machen Beute auf eigene Faust, verschaffen sich Vorteile, die ich ausdrücklich untersagt habe, und gefährden zudem mit ihrem selbstsüchtigen Treiben noch den Rest der Flotte. Doch ich werde es ihnen zeigen …«
Sein Geduldsfaden ist gerissen. Wütend durchmißt er mehrmals mit stampfenden Schritten die Kajüte, bleibt wieder am Tisch stehen und stützt den gebeugten Oberkörper mit beiden Armen ab. Es ist auf einmal so still, daß ich nicht die geringste Bewegung wage. Sein Atem geht schwer.
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