Der Meister und Margarita
fleischig, mit flinken Schweinsäuglein, saß am Fenster und erzählte seinem kleinen Nachbarn leise, man habe den Sarg mit einer schwarzen Totendecke zudecken müssen ... "Na so was!" flüsterte der Kleine staunend. "Das war ja noch nie da! Was hat denn Sheldybin unternommen?" Durch das gleichmäßige Brummen des Obusmotors kam die Antwort vom Fenster:
"Kriminalmiliz . .. Skandal... Die reinste Mystik!"
Aus den abgerissenen Gesprächsfetzen reimte sich Margarita Nikolajewna etwas zusammen. Die beiden Männer flüsterten, einem Verstorbenen (der Name wurde nicht genannt) sei heute morgen aus dem Sarg der Kopf gestohlen worden. Deshalb sei dieser Sheldybin jetzt so aufgeregt. Die beiden, die im Obus flüsterten, hatten auch mit dem bestohlenen Leichnam zu tun.
"Ob wir's noch schaffen, Blumen zu holen?" fragte der Kleine unruhig. "Um zwei, sagst du, ist die Einäscherung?" Margarita Nikolajewna hatte es dann satt, auf das geheimnisvolle Gewisper zu horchen, und war froh, daß sie aussteigen mußte.
Bald danach saß sie unterhalb der Kremlmauer auf einer Bank. Sie hatte sich so hingesetzt, daß sie den Manegeplatz übersehen konnte.
Gegen die grelle Sonne blinzelnd, erinnerte sie sich ihres heutigen Traums, erinnerte sich, wie sie vor genau einem Jahr, am selben Tag und zur selben Stunde, mit ihm hier auf derselben Bank gesessen hatte. Wie damals lag ihr schwarzes Handtäschchen neben ihr auf der Bank. Nur er war nicht da, und doch sprach Margarita Nikolajewna in Gedanken mit ihm: "Wenn du verbannt bist, warum läßt du nichts von dir hören? Andere schicken doch auch Lebenszeichen. Liebst du mich nicht mehr? Nein, das glaube ich nicht. Also warst du verbannt und bist tot. Wenn es so ist, dann gib mich bitte los, schenk mir endlich die Freiheit, zu leben und Luft zu atmen!" Margarita Nikolajewna antwortete sich selbst: "Du bist frei.. . Halte ich dich denn?" Danach widersprach sie: "Was ist das für eine Antwort? Aus meinem Gedächtnis sollst du gehen, dann werde ich frei sein ..."
Leute schlenderten an Margarita Nikolajewna vorbei. Ein Mann warf der gutgekleideten Frau, angezogen von ihrer Schönheit und Einsamkeit, einen Seitenblick zu, räusperte sich und setzte sich ans Ende derselben Bank. Er faßte sich ein Herz und sagte:
"Effektiv schönes Wetter heute . .."
Aber Margarita sah ihn so finster an, daß er aufstand und ging. Da haben wir so ein Beispiel, sagte Margarita in Gedanken zu dem der ihr ganzes Wesen beherrschte. Warum hab ich den Mann eigentlich verjagt? Ich langweile mich, und dieser Schürzenjäger ist gar nicht so übel, allenfalls das dumme Wort "effektiv" ... Warum hocke ich wie eine Eule allein an der Mauer? Warum bin ich vom Leben ausgeschlossen? Sie fiel vollends in Trauer und Melancholie. Aber plötzlich versetzte ihr dieselbe Welle von Erwartung und Erregung wie heute morgen einen Stoß vor die Brust. ,Ja, es wird geschehen!"
Noch einmal stieß die Welle sie an, und jetzt begriff sie, daß es eine Geräuschwelle war. Durch den Stadtlärm hörte sie immer deutlicher näher kommende Trommelschläge und etwas falsche Trompetentöne.
Als erster ritt gemessen ein Milizionär am Gitter des Gartens entlang, gefolgt von drei anderen zu Fuß. Dann kam langsam ein Lastauto mit Musikern. Ihm folgte ein nagelneuer, offener Leichenwagen mit dem unter Kränzen begrabenen Sarg; in den Ecken der Ladefläche standen vier Personen: drei Männer und eine Frau.
Selbst auf die beträchtliche Entfernung sah Margarita, daß die Leute auf dem Leichenwagen, die dem Toten das letzte Geleit gaben, merkwürdig verstörte Gesichter hatten. Das war besonders auffällig bei der Frau, die links hinten stand. Ihre dicken Wangen schienen von einem pikanten Geheimnis noch mehr gebläht, und in ihren fettgepolsterten Äuglein spielten zwielichtige Fünkchen. Es war, als würde sich die Frau im nächsten Moment nicht mehr beherrschen können, dem Toten zuzwinkern und sagen: Haben Sie so was schon mal gesehen? Die reinste Mystik! Ebenso verstört waren die Gesichter der etwa dreihundert Fußgänger, die langsam dem Leichenwagen folgten. Margarita folgte dem Zug mit den Blicken und horchte auf die in der Ferne verstummende, trübsinnige türkische Trommel, die ununterbrochen dasselbe "bum, bum, bum" von sich gab. Was für ein seltsames Begräbnis, dachte sie, und wie traurig dieses "bum" klingt! Ach, ich würde wahrhaftig dem Satan meine Seele verpfänden, bloß um zu erfahren, ob er noch lebt. Wen sie dort wohl zu Grabe
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