Der Meister und Margarita
tragen mit solch merkwürdigen Gesichtern? "Michail Alexandrowitsch Berlioz", hörte sie neben sich eine Männerstimme näseln, "den Vorsitzenden der Massolit." Margarita Nikolajewna drehte verwundert den Kopf und erblickte auf ihrer Bank einen Mann, der sich lautlos dort hingesetzt haben mußte, während sie die Prozession beobachtete. Wahrscheinlich hatte sie in ihrer Zerstreutheit die Frage laut gestellt.
Unterdes machte die Prozession halt, offenbar vor einer Verkehrsampel.
,Ja", fuhr der Unbekannte fort, "die sind in merkwürdiger Stimmung. Sie tragen einen Toten zu Grabe und denken nur darüber nach, wo sein Kopf geblieben sein kann."
"Wieso sein Kopf?" fragte Margarita und musterte ihren unerwarteten Nachbarn. Er war klein von Wuchs, hatte flammendrotes Haar und einen langen Eckzahn und trug ein gestärktes Hemd, einen gestreiften Anzug von guter Qualität, Lackschuhe und eine Meloner Sein Schlips war grellbunt. Erstaunlicherweise ragte aus seiner Brusttasche, wo die Männer sonst ein Tüchlein oder einen Füllhalter zu tragen pflegen, ein abgenagter Hühnerknochen.
"Wenn Sie erlauben", erklärte der Rothaarige, "heute morgen wurde im Saal des Gribojedow dem Toten der Kopf aus dem Sarg geklaut."
"Wie ist denn das möglich?" fragte Margarita unwillkürlich und erinnerte sich des Geflüsters im Obus.
"Der Teufel wird's wissen!" warf der Rothaarige lässig hin. "Im übrigen finde ich, es wäre nicht schlecht, Behemoth danach zu fragen. Unglaublich geschickt wurde der Kopf gemaust! Ein Riesenskandal! Unbegreiflich ist vor allem, wer ihn braucht, den Kopf, und wozu!"
Sosehr Margarita Nikolajewna auch mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt war, das seltsame Geschwätz des Unbekannten verblüffte sie doch.
"Moment mal!" rief sie plötzlich. "Welcher Berlioz? Der, von dem die Zeitungen heute ..." "Gewiß, gewiß ..."
"Dann sind das also Schriftsteller, die hinter dem Sarg gehen?" fragte Margarita und fletschte plötzlich die Zähne. "Selbstredend!"
"Und Sie kennen die alle von Angesicht?" "Alle", antwortete der Rothaarige.
"Sagen Sie", fragte Margarita, und ihre Stimme klang dumpf, "ist der Kritiker Latunski dabei?"
"Was denn sonst?" antwortete der Rothaarige. "Da geht er, außen in der vierten Reihe."
"Der Blonde?" fragte Margarita mit verkniffenen Augen. "Aschblond ist er. Sehen Sie, jetzt hebt er die Augen zum Himmel."
"Der so aussieht wie ein Pater?" "Genau!"
Weitere Fragen stellte Margarita nicht, sie starrte Latunski an. "Ich sehe", sagte der Rothaarige lächelnd, "Sie hassen diesen Latunski!"
"Ich hasse noch ein paar andere Leute", stieß Margarita durch die Zähne, "aber es ist uninteressant, davon zu reden." Die Prozession hatte sich unterdes weiterbewegt, und den Fußgängern folgten Autos, die größtenteils leer waren. ,Ja, natürlich, was soll da schon interessant sein, Margarita Nikolajewna."
"Sie kennen mich?" fragte Margarita verwundert.
Statt einer Antwort lüftete der Rothaarige die Melone und hielt sie in der ausgestreckten Hand.
Eine richtige Verbrechervisage! dachte Margarita und betrachtete ihre Straßenbekanntschaft. "Aber ich kenne Sie nicht", sagte sie trocken. "Woher sollten Sie mich kennen? Übrigens führt mich ein Auftrag zu Ihnen."
Margarita erbleichte und prallte zurück.
"Das hätten sie gleich sagen können, statt allen möglichen Unsinn von dem abgeschnittenen Kopf zu reden!" sagte sie. "Sie wollen mich verhaften?"
"Nichts dergleichen!" rief der Rothaarige. "Was soll das: Wenn ich Sie anspreche, muß ich Sie da gleich verhaften wollen? Nein, ich hab ein Anliegen an Sie." "Ich verstehe nicht. Was für ein Anliegen?" Der Rothaarige sah sich um und sagte geheimnisvoll: "Man hat mich hergeschickt, um Sie für heute abend einzuladen."
"Was faseln Sie da, zu wem denn?" "Zu einem sehr respektablen Ausländer", sagte der Rothaarige bedeutungsvoll und verengte die Augen. Margarita war sehr erbost.
"Eine neue Sorte Menschen — Straßenkuppler!" Sie stand auf, um zu gehen.
"Nie wieder übernehme ich solche Aufträge!" rief der Rothaarige beleidigt der sich entfernenden Margarita hinterher. "Blöde Gans!"
"Schurke!" antwortete sie, sich umdrehend, und hörte in diesem Moment die Stimme des Rothaarigen:
",Die Dunkelheit, die vom Mittelmeer herüberkam, deckte die dem Prokurator verhaßte Stadt zu. Verschwunden waren die Hängebrücken, die den Tempel mit der schrecklichen Burg Antonia verbanden ... Verschwunden war Jerschalaim, die große Stadt, als hätte sie nie
Weitere Kostenlose Bücher