Der Meister und Margarita
gefrühstückt hatte, ging sie in die dunkle, fensterlose Kammer, wo in zwei großen Schränken Koffer und allerlei Kram aufbewahrt wurde. Hier hockte sie sich hin, öffnete die untere Schublade des einen Schrankes und holte unter einem Haufen Seidenreste die einzigen Kostbarkeiten hervor, die sie besaß: ein in braunes Leder gebundenes altes Album mit einer Fotografie des Meisters, ein Sparkassenbuch mit zehntausend Rubeln auf seinen Namen, ein paar zwischen dünnem Papier gepreßte Rosenblätter und den Teil eines Heftes, einen Bogen stark, mit Maschine vollgeschrieben, die Ränder angekohlt und ausgefranst. Mit diesem Reichtum kehrte Margarita Nikolajewna ins Schlafzimmer zurück, stellte die Fotografie vor dem dreiteiligen Spiegel auf und saß etwa eine Stunde lang da, das vom Feuer verdorbene Heft auf den Knien. Sie blätterte es durch und las ein weiteres Mal den Text, dessen Anfang und Ende damals verbrannt waren: "Die Finsternis, die vom Mittelmeer herüberkam, deckte die dem Prokurator verhaßte Stadt zu. Verschwunden waren die Hängebrücken, die den Tempel mit der schrecklichen Burg Antonia verbanden, vom Himmel senkte sich ein Abgrund hernieder und verhüllte die geflügelten Götter über der Rennbahn, den Palast der Hasmonäer mit seinen Schießscharten, die Basare, die Karawansereien, die Gassen, die Teiche ... Verschwunden war Jerschalaim, die große Stadt, als hätte sie nie existiert." Margarita hätte gern weitergelesen, aber es war nichts weiter da als ungleichmäßig verkohlte Zacken.
Margarita Nikolajewna wischte die Tränen weg, ließ das Heft sinken, stützte die Ellbogen auf die Spiegelkonsole, saß, sich spiegelnd, lange da und betrachtete unverwandt die Fotografie. Dann waren die Tränen getrocknet. Sorgfältig packte sie ihren Schatz zusammen, vergrub ihn wieder unter den Seidenresten und verschloß in der dunklen Kammer klirrend die Schublade. In der Diele zog sie den Mantel an, denn sie wollte ausgehen. Die hübsche Natascha, ihr Hausmädchen, erkundigte sich, was sie als Hauptgericht zÜbereiten solle, und nachdem sie zur Antwort erhalten hatte, das sei gleichgültig, verwickelte sie ihre Prinzipalin spaßeshalber in ein Gespräch und erzählte die unmöglichsten Sachen: gestern habe im Varietetheater ein ZaÜberer Kunststücke gezeigt, daß alle staunten; er habe jedem zwei Flakons ausländisches Parfüm und Strümpfe geschenkt, und dann, als die Vorstellung zu Ende war und das Publikum das Theater verließ, hätten alle — schwupp — nackend dagestanden! Margarita Nikolajewna sank auf den Stuhl beim Vorzimmerspiegel und lachte schallend.
"Natascha! Schämen Sie sich gar nicht?" sagte sie. "Sie sind doch keine Analphabetin, Sie sind ein gescheites Mädchen, und doch erzählen Sie den Unsinn weiter, der beim Anstehen geredet wird!"
Natascha lief knallrot an und widersprach hitzig, nichts davon sei gelogen, und sie selbst habe heute im Feinkostladen am Ar-bat eine Frau gesehen, die in Schuhen hereinkam, und beim Anstehen an der Kasse seien die Schuhe von ihren Füßen verschwunden, und sie habe in Strümpfen dagestanden. Weit aufgerissene Augen, Löcher in der Ferse! Verhexte Schuhe aus dieser Vorstellung seien es gewesen. "Und so ist sie losgezogen?"
"So ist sie losgezogen!" rief Natascha und errötete noch stärker, weil ihr nicht geglaubt wurde. "Gestern abend, Margarita Niko-lajewna, hat die Miliz an die hundert Menschen festgenommen. Nach der Vorstellung liefen die Frauen nur im Schlüpfer die Twerskaja entlang."
"Na, das hat dir natürlich Darja erzählt", sagte Margarita Niko-lajewna, "mir ist schon lange aufgefallen, daß sie lügt wie gedruckt."
Die amüsante Unterhaltung endete mit einer angenehmen Überraschung für Natascha. Margarita Nikolajewna ging ins Schlafzimmer und brachte ein Paar Strümpfe und ein Flakon Eau de Cologne. Sie sagte Natascha, sie wolle ebenfalls einen Trick zeigen, schenkte ihr die Strümpfe und das Fläschchen und fügte hinzu, sie bitte nur um das eine, Natascha möge nicht in Strümpfen über die Twerskaja laufen und nicht mehr auf Darja hören. Nachdem sich Prinzipalin und Hausmädchen abgeküßt hatten, trennten sie sich.
In den weichen Obussessel zurückgelehnt, fuhr Margarita Nikolajewna den Arbat entlang und dachte bald an ihre eigenen Sorgen, bald horchte sie auf das, was die zwei Männer hinter ihr tuschelten.
Die beiden blickten ab und zu um sich, ob niemand ihnen zuhörte, und flüsterten irgendwelchen Unsinn. Der eine, robust,
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