Der Meister
einer maschinengeschriebenen Absenderangabe versehen: Dr. J. P. O’Donnell, 1634 Brattle Street, Cambridge, MA 02138. Brattle Street – das war nicht weit von der Harvard-Universität; ein nobles Wohnviertel der Bildungselite, wo Professoren und Industriebosse im Ruhestand einander beim Joggen begegneten und sich über penibel gestutzte Hecken hinweg zuwinkten. Nicht unbedingt die Gegend, in der man Fans von Serienmördern vermuten würde.
Sie faltete den Brief auseinander. Er war sechs Wochen zuvor datiert.
Mein lieber Warren,
vielen Dank für Ihren Brief und die Unterzeichnung der beiden Freigabeerklärungen. Die Einzelheiten, die Sie mir mitgeteilt haben, sind sehr wertvoll für mich, und ich kann jetzt wesentlich besser verstehen, mit welchen Schwierigkeiten Sie zu kämpfen hatten. Ich habe noch so viele Fragen an Sie, und es freut mich, dass Sie immer noch bereit sind, sich wie geplant mit mir zu treffen. Wenn Sie keine Einwände haben, würde ich das Gespräch gerne auf Video aufzeichnen. Sie wissen natürlich, dass Ihre Mithilfe für mein Projekt von entscheidender Bedeutung ist.
Mit freundlichen Grüßen Dr. O’Donnell
»Wer um alles in der Welt ist J. P. O’Donnell?«, fragte Rizzoli.
Dean sah überrascht auf. »Joyce O’Donnell?«
»Auf dem Umschlag steht nur Dr. J. P. O’Donnell. Cambridge, Massachusetts. Sie hat mit Hoyt gesprochen.«
Er betrachtete stirnrunzelnd den Umschlag. »Ich wusste gar nicht, dass sie jetzt hier wohnt.«
»Sie kennen sie?«
»Sie ist Neuropsychiaterin. Sagen wir einfach nur, dass wir einander unter wenig erfreulichen Umständen begegnet sind, nämlich als Gegner in einem Gerichtssaal. Die Strafverteidiger lieben sie.«
»Ach du lieber Gott – eine so genannte Sachverständige. Eine, die für die bösen Buben in die Bresche springt.«
Er nickte. »Ganz gleich, was Ihr Kandidat angestellt hat, ganz gleich, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat, O’Donnell ist stets gerne bereit, ihm mildernde Umstände zu verschaffen.«
»Ich frage mich, wieso sie an Hoyt geschrieben hat.« Sie las den Brief erneut durch. Er war in ausgesprochen respektvollem Ton gehalten, voll des Lobes für seine Mitarbeit. Schon jetzt war ihr diese Dr. O’Donnell unsympathisch.
Der nächste Umschlag auf dem Stapel war ebenfalls von Dr. O’Donnell, doch er enthielt keinen Brief. Stattdessen fand sie darin drei Polaroidfotos – sehr amateurhafte Schnappschüsse. Zwei waren bei Tageslicht im Freien fotografiert; das dritte war eine Innenaufnahme. Einen Moment lang starrte sie die Bilder nur an, während die Haare in ihrem Nacken sich aufrichteten und ihre Augen registrierten, was ihr Gehirn noch nicht akzeptieren wollte. Sie fuhr zusammen, und die Fotos fielen ihr aus der Hand wie glühende Kohlen.
»Jane? Was ist denn?«
»Das bin ich«, flüsterte sie.
»Was?«
»Sie ist mir gefolgt. Sie hat Fotos von mir gemacht. Und sie ihm geschickt.«
Dean stand von seinem Stuhl auf und kam um den Tisch herum, um ihr über die Schulter zu schauen. »Ich kann Sie da aber nicht erkennen.«
»Sehen Sie doch. Sehen Sie! «Sie zeigte auf das Foto eines dunkelgrünen Honda, der am Straßenrand geparkt war. »Das ist mein Auto.«
»Das Kennzeichen ist nicht zu sehen.«
»Ich werde doch noch mein eigenes Auto erkennen!«
Dean drehte das Polaroidfoto um. Auf die Rückseite hatte jemand mit blauem Filzstift ein grinsendes Gesicht gemalt und dazu geschrieben: Mein Auto.
Die Angst ließ ihr Herz einen wilden Trommelwirbel vollführen. »Sehen Sie sich das nächste an«, sagte sie.
Er nahm das zweite Bild zur Hand. Auch dieses war am hellen Tag aufgenommen, und es zeigte die Fassade eines Gebäudes. Er musste nicht fragen, um welches Haus es sich handelte, denn er war selbst am Abend zuvor dort gewesen. Er drehte das Foto um und las die Worte Mein Haus. Darunter ein weiteres Smiley-Gesicht.
Dean griff nach dem dritten Foto, das in einem Restaurant aufgenommen war.
Auf den ersten Blick schien es nur ein stümperhaft gewählter Bildausschnitt zu sein, der diverse Tische mit Gästen zeigte; im Vordergrund war verschwommen eine Bedienung zu erkennen, die mit einer Kaffeekanne in der Hand durchs Bild ging. Doch Rizzoli hatte nur wenige Sekunden gebraucht, um die Gestalt zu entdecken, die links von der Bildmitte saß; eine dunkelhaarige Frau, deren Gesicht nur im Profil zu sehen war und deren Züge vor dem hellen Hintergrund des Fensters nicht auszumachen waren. Sie wartete schweigend, bis
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