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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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um abzuschätzen, mit was für einer Gegnerin sie es zu tun hatte. Sie hatte rasch begriffen, dass Rizzoli in der Tat ihre Gegnerin war, und sie reagierte entsprechend, indem sie eine steife Haltung annahm, als ob sie in einem eisernen Panzer steckte.
    »Zunächst einmal sollte ich Ihnen eine Frage stellen, Detective«, konterte O’Donnell schließlich. »Was geht meine Korrespondenz mit Mr. Hoyt die Polizei an?«
    »Sie wissen, dass er aus der Haft entflohen ist?«
    »Ja, ich habe es natürlich in den Nachrichten gesehen. Und dann hat sich auch die Staatspolizei bei mir gemeldet, um zu fragen, ob er mit mir Kontakt aufgenommen habe. Sie haben sich an alle Personen gewandt, die mit Warren Kontakt hatten.«
    Mit Warren. Sie schien Hoyt ja sehr nahe zu stehen.
    Rizzoli öffnete den großen braunen Umschlag, den sie mitgebracht hatte, und entnahm ihm drei in Plastikbeuteln verschlossene Polaraidfotos, die sie Dr. O’Donnell reichte.
    »Haben Sie Mr. Hoyt diese Fotos geschickt?«
    O’Donnell warf nur einen flüchtigen Blick auf die Bilder. »Nein. Wieso?«
    »Sie haben sie sich ja gar nicht richtig angesehen.«
    »Das ist nicht nötig. Ich habe Mr. Hoyt nie irgendwelche Fotos geschickt.«
    »Diese hier wurden in seiner Zelle gefunden. In einem Umschlag mit Ihrem Absender.«
    »Dann muss er meinen Umschlag benutzt haben, um die Fotos aufzubewahren.« Sie gab Rizzoli die Polaroids zurück.
    »Was genau haben Sie ihm geschickt?«
    »Briefe. Freigabeerklärungen, die er unterschrieben zurücksenden sollte.«
    »Worauf bezogen sich diese Freigabeerklärungen?«
    »Auf seine Schulunterlagen. Und Krankenakten aus seiner Kindheit. Alles Informationen, die mir helfen sollten, seine Vorgeschichte zu beurteilen.«
    »Wie oft haben Sie ihm geschrieben?«
    »Vier- oder fünfmal, glaube ich.«
    »Und er hat geantwortet?«
    »Ja. Ich habe seine Briefe in meinen Akten. Sie können Kopien davon bekommen.«
    »Hat er nach seiner Flucht versucht, mit Ihnen in Kontakt zu treten?«
    »Glauben Sie, ich hätte es den Behörden verschwiegen, wenn er das getan hätte?«
    »Ich kenne Sie nicht, Dr. O’Donnell. Ich weiß nicht, welcher Art Ihre Beziehung zu Mr. Hoyt ist.«
    »Es war nur ein Briefwechsel, keine Beziehung.«
    »Aber geschrieben haben Sie ihm. Und zwar vier- oder fünfmal.«
    »Ich habe ihn auch besucht. Das Gespräch ist auf Video festgehalten, falls Sie daran interessiert sind.«
    »Warum wollten Sie mit ihm sprechen?«
    »Er hat eine Geschichte zu erzählen. Er kann uns etwas lehren.«
    »Was denn – vielleicht, wie man Frauen abschlachtet?«
    Die Worte waren heraus, bevor Rizzoli darüber nachdenken konnte – doch ihr Gefühlsausbruch prallte wie ein Pfeil an der Rüstung der anderen Frau ab.
    »Als Polizisten sehen Sie nur das Endergebnis«, erwiderte O’Donnell gelassen. »Die Brutalität, die Gewalt. Schreckliche Verbrechen, die aber nur die natürliche Folge dessen sind, was diese Männer durchgemacht haben.«
    »Und was sehen Sie?«
    »Das, was diesen Taten vorausgegangen ist; das Vorleben der Täter.«
    »Jetzt wollen Sie mir also erzählen, dass seine unglückliche Kindheit an allem schuld ist.«
    »Wissen Sie irgendetwas über Warren Hoyts Kindheit?«
    Rizzoli spürte, wie ihr Blutdruck in die Höhe schoss. Sie hatte nicht die Absicht, sich in ein Gespräch über die Wurzeln von Hoyts Zwangsvorstellungen verwickeln zu lassen.
    »Seine Opfer interessiert es herzlich wenig, was er für eine Kindheit gehabt hat. Und mich ebenso wenig.«
    »Aber wissen Sie etwas darüber?«
    »Man sagte mir, er habe eine völlig normale Kindheit gehabt. Auf jeden Fall eine bessere als viele andere Männer, die keine Frauen aufschlitzen.«
    »Normal.« O’Donnell schien sich über das Wort zu amüsieren. Zum ersten Mal, seit sie Platz genommen hatten, sah sie Dean an. »Agent Dean, lassen Sie uns doch einmal Ihre Definition von ›normal‹ hören.«
    Die feindseligen Blicke, die die beiden wechselten, waren wie der Nachhall einer alten Schlacht, die nicht bis zum Ende ausgefochten worden war. Aber was immer Dean in diesem Moment empfinden mochte, es war seiner Stimme nicht anzumerken, als er ganz ruhig erwiderte: »Detective Rizzoli stellt hier die Fragen. Ich schlage vor, dass Sie sie ganz einfach beantworten, Doktor.«
    Rizzoli war überrascht, dass er nicht schon längst das Gespräch an sich gerissen hatte. Dean war ihr stets wie ein Mann erschienen, der es gewohnt war, überall die Führung zu übernehmen, doch in diesem Fall

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