Der Meister
durchgegangen«, sagte Oxton. »Die Staatspolizei hat die Namen und Adressen sämtlicher Briefpartner.« Er übergab Dean den Stapel. »Das hier ist natürlich nur die Post, die er aufgehoben hat. Sicherlich hat er auch einiges weggeworfen.«
Dean öffnete den Beutel und nahm die Briefe heraus. Es waren rund ein Dutzend, und sie steckten noch in den Umschlägen.
»Zensiert die Strafvollzugsbehörde die Post der Gefangenen?«, fragte Dean. »Sichten Sie jeden Brief, bevor der Adressat ihn bekommt?«
»Wir sind dazu berechtigt. Es hängt allerdings davon ab, um welche Kategorie von Post es sich handelt.«
»Kategorie?«
»Wenn die Post als vertraulich eingestuft ist, darf das Gefängnispersonal nur einen Blick hineinwerfen, um sie auf Schmuggelware zu überprüfen. Die Briefe selbst dürfen jedoch nicht gelesen werden. Sie sind dann die Privatangelegenheit des Absenders und des Häftlings.«
»Sie wissen also nicht, was in den Briefen steht, die er erhalten hat?«
»Sofern es sich um vertrauliche Post handelt, nein.«
»Was ist der Unterschied zwischen vertraulicher und nicht vertraulicher Post?«, fragte Rizzoli.
Oxton beantwortete ihre Zwischenfrage mit einem unwilligen Flackern in den Augen. »Nicht vertraulich sind Sendungen von Freunden, Verwandten oder von sonstigen Privatpersonen. So haben einige unserer Häftlinge Brieffreundschaften mit Mitbürgern angeknüpft, die der Ansicht sind, dass sie damit eine gute Tat vollbringen.«
»Indem sie mit Mördern korrespondieren? Sind die denn verrückt?«
»Viele von ihnen sind naive, einsame Frauen, die leicht auf Betrüger und Hochstapler hereinfallen. Briefe dieser Art gelten als nicht vertraulich, und das Personal ist berechtigt, sie einzusehen und zu zensieren. Aber wir haben nicht immer die Zeit, sie alle zu lesen. Wir haben hier große Mengen an Post zu bearbeiten. Gerade im Fall des Häftlings Hoyt waren stets sehr viele Briefe zu überprüfen.«
»Von wem? So viel ich weiß, hat er kaum noch Familie«, sagte Dean.
»Er war letztes Jahr in den Medien sehr präsent. Die Öffentlichkeit ist auf ihn aufmerksam geworden, und viele wollten ihm unbedingt schreiben.«
Rizzoli war entsetzt. »Wollen Sie damit sagen, dass er Fanpost bekommen hat?«
»Ja.«
»Mein Gott. Was sind das bloß für Spinner!«
»Viele Menschen finden es ausgesprochen aufregend, sich mit einem Mörder zu unterhalten. Das hat etwas mit dem Wunsch zu tun, an der Berühmtheit eines anderen teilzuhaben. Manson, Dahmer und Gacy, sie alle haben Fanpost bekommen. Unsere Häftlinge erhalten sogar Heiratsanträge. Die Frauen schicken ihnen Geld oder Fotos von sich im Bikini. Die Männer wiederum wollen wissen, was es für ein Gefühl ist, wenn man einen Mord begeht. Die Welt ist voll von perversen Arschlöchern – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise –, die es unheimlich scharf finden, einen waschechten Mörder zu kennen.«
Aber einer hatte sich nicht damit begnügt, nur an Hoyt zu schreiben. Einer war tatsächlich Hoyts exklusivem Club beigetreten. Sie starrte das Bündel Briefe an, und diese handgreiflichen Beweise für die zweifelhafte Berühmtheit, die der Chirurg erlangt hatte, erfüllten sie mit ohnmächtiger Wut. Der Killer als Popstar. Sie dachte an die Narben an ihren Händen, die er ihr beigebracht hatte, und jeder dieser Fanbriefe war wie ein weiterer Stich seines Skalpells.
»Was ist mit der vertraulichen Post?«, fragte Dean. »Sie sagten, dass sie nicht gelesen und zensiert wird. Aber wann wird ein Brief als vertraulich eingestuft?«
»Wenn er zum Beispiel von Angehörigen gewisser Staats- oder Bundesbehörden stammt. Etwa von einem Richter oder dem Generalstaatsanwalt. Auch Post vom Präsidenten, dem Gouverneur oder den Strafverfolgungsbehörden fällt unter diese Rubrik.«
»Hat Hoyt Post dieser Art erhalten?«
»Möglich wäre es. Wir führen nicht Buch über jeden eingehenden Brief.«
»Und woher wissen Sie, ob ein Brief als vertraulich zu gelten hat?«, fragte Rizzoli.
Oxton warf ihr einen ungehaltenen Blick zu. »Das habe ich Ihnen doch gerade erst erklärt. Wenn er von einem Bundes- oder Staatsbeamten kommt …«
»Nein, ich meine, wie Sie wissen können, dass das Briefpapier nicht gefälscht oder gestohlen ist? Ich könnte doch einem Ihrer Insassen Fluchtpläne zuschicken und sie beispielsweise mit einem Umschlag aus dem Büro von Senator Conway tarnen.« Das Beispiel hatte sie mit Bedacht gewählt. Sie beobachtete Deans Reaktion und sah, wie er bei der
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