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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hatte er ihr diese Rolle überlassen und sich mit der des Beobachters begnügt.
    Durch ihren Zornesausbruch war ihr die Gesprächsführung entglitten. Jetzt war es an der Zeit, das Heft wieder in die Hand zu nehmen, und dazu würde sie ihren Ärger unterdrücken und ganz ruhig und methodisch vorgehen müssen.
    »Seit wann stehen Sie mit Hoyt in brieflichem Kontakt?«, fragte sie.
    O’Donnell antwortete ebenso sachlich: »Seit etwa drei Monaten.«
    »Und was hat Sie dazu veranlasst, ihm zu schreiben?«
    »Augenblick mal.« O’Donnell lachte verblüfft auf. »Da irren Sie sich aber. Ich habe diesen Briefwechsel nicht begonnen.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass Hoyt Ihnen zuerst geschrieben hat?«
    »Ja. Er sagte, er habe von meiner Arbeit auf dem Gebiet der Neurologie der Gewalttätigkeit gehört. Er wusste, dass ich in anderen Prozessen als Zeugin der Verteidigung aufgetreten war.«
    »Er wollte Sie engagieren?«
    »Nein. Er wusste, dass er keine Chance hatte, das Urteil gegen sich anzufechten. Dazu war es bereits zu spät. Aber er dachte, dass ich vielleicht an seinem Fall interessiert sein könnte. Das war ich auch.«
    »Warum?«
    »Wollen Sie wissen, warum ich mich für ihn interessierte?«
    »Warum Sie Ihre Zeit damit vergeuden wollten, einem Menschen wie Hoyt zu schreiben.«
    »Es sind gerade Menschen wie er, über die ich gerne mehr wüsste.«
    »Er ist bei einem halben Dutzend Psychiatern in Behandlung gewesen. Ihm fehlt nichts. Er ist vollkommen normal, außer dass er eine Vorliebe für das Töten von Frauen hat. Es macht ihm Spaß, sie zu fesseln und ihnen den Unterleib aufzuschlitzen. Es turnt ihn an, den Chirurgen zu spielen. Allerdings verzichtet er dabei auf die Narkose. Die Frauen sind bei vollem Bewusstsein und bekommen genau mit, was er ihnen antut.«
    »Und dennoch bezeichnen Sie ihn als normal.«
    »Er ist nicht verrückt. Er wusste, was er tat, und es hat ihm Spaß gemacht.«
    »Sie glauben also, dass er einfach von Natur aus böse ist?«
    »Das ist genau das Wort, das ich auf ihn anwenden würde«, sagte Rizzoli.
    O’Donnell musterte sie ein paar Sekunden lang mit einem Blick, der sie nachgerade zu durchbohren schien. Wie viel konnte sie sehen? Erlaubte ihre psychiatrische Ausbildung es ihr, die öffentliche Maske eines Menschen zu durchschauen und die traumatisierte Kreatur dahinter zu erkennen?
    O’Donnell stand abrupt auf. »Wie wär’s, wenn Sie kurz mit in mein Arbeitszimmer kämen?«, sagte sie. »Ich habe da etwas, was Sie sich ansehen sollten.«
    Sie ging hinaus, und Rizzoli und Dean folgten ihr. Ihre Schritte wurden von dem weinroten Teppich gedämpft, der sich über die ganze Länge des Flurs hinzog. Das Arbeitszimmer, in das O’Donnell sie führte, bildete einen schroffen Kontrast zu dem üppig eingerichteten Wohnzimmer. Es war streng funktional gehalten: weiße Wände, Regale mit Nachschlagewerken und handelsübliche Aktenschränke aus Metall. Wenn man dieses Zimmer betrat, dachte Rizzoli, musste man automatisch auf Arbeitsmodus umschalten. Und es schien just diesen Effekt auf O’Donnell zu haben. Mit grimmiger Entschlossenheit marschierte sie auf ihren Schreibtisch zu, griff nach einem Umschlag, der dort lag, und trat vor einen an der Wand montierten Leuchtkasten. Sie nahm eine Röntgenaufnahme aus dem Umschlag, schob sie unter die Klemmen und drückte auf einen Schalter.
    Das Licht flackerte auf und ließ die Aufnahme eines menschlichen Schädels erkennen.
    »Frontalansicht«, erklärte O’Donnell. »Ein achtundzwanzigjähriger Weißer, von Beruf Bauarbeiter. Er war ein unbescholtener Bürger, wurde als rücksichtsvoller Mensch und guter Ehemann beschrieben. Seiner sechsjährigen Tochter soll er ein liebevoller Vater gewesen sein. Dann hatte er einen Arbeitsunfall; er wurde von einem Balken am Kopf getroffen.« Sie sah ihre Besucher an. »Agent Dean hat es wahrscheinlich schon erkannt. Wie sieht es mit Ihnen aus, Detective Rizzoli?«
    Rizzoli trat näher an den Leuchtkasten heran. Sie hatte nicht oft Gelegenheit, sich Röntgenaufnahmen anzusehen, und konnte nur das Gesamtbild wahrnehmen: die kuppelartige Schädeldecke, die Augenhöhlen, die beiden Zahnreihen.
    »Ich hänge jetzt mal die Seitenansicht auf«, sagte O’Donnell und klemmte eine zweite Aufnahme an den Kasten.
    »Können Sie es nun sehen?«
    Das zweite Bild zeigte den Schädel im Profil. Jetzt konnte Rizzoli ein feines Netz von Rissen erkennen, die von der Vorderseite des Schädels nach hinten ausstrahlten. Sie

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