Der Meister
zeigte darauf.
O’Donnell nickte. »Er war bewusstlos, als sie ihn in die Notaufnahme brachten. Auf dem CT waren innere Blutungen zu erkennen, und ein großes subdurales Hämatom – eine Ansammlung von Blut – drückte auf die Stirnlappen des Gehirns. Das Blut wurde durch einen chirurgischen Eingriff abgeleitet, und seine Genesung machte rasche Fortschritte. Oder vielmehr, er schien zu genesen. Er wurde aus dem Krankenhaus entlassen und konnte schließlich auch wieder zur Arbeit gehen. Aber er war nicht mehr derselbe wie vor dem Unfall. Immer wieder bekam er auf der Arbeit Tobsuchtsanfälle, und letzten Endes verlor er deswegen seinen Job. Er begann seine Tochter sexuell zu belästigen. Und dann schlug er eines Tages nach einem Streit seine Frau so brutal zusammen, dass ihre Leiche bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Er fing an, auf sie einzuprügeln, und konnte einfach nicht mehr aufhören. Auch nicht, nachdem er ihr fast sämtliche Zähne ausgeschlagen hatte. Auch nicht, als ihr Gesicht nur noch eine breiige Masse mit Knochensplittern darin war.«
»Und Sie wollen mir erzählen, dass das hier an alldem schuld ist?«, meinte Rizzoli und deutete auf die Schädelfraktur.
»Ja.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
»Sehen Sie sich die Aufnahme genau an, Detective. Bedenken Sie, welcher Teil des Gehirns unmittelbar unter der Fraktur liegt.« Sie wandte sich zu Dean um.
Er erwiderte ihren Blick mit ausdrucksloser Miene. »Die Stirnlappen«, sagte er.
Ein leises Lächeln zuckte über O’Donnells Lippen. Offensichtlich genoss sie die Gelegenheit, einen alten Widersacher auf die Probe zu stellen.
»Was soll uns diese Röntgenaufnahme denn nun demonstrieren?«, fragte Rizzoli.
»Ich wurde von dem Verteidiger des Mannes hinzugezogen und gebeten, ein neuropsychiatrisches Gutachten zu erstellen. Dazu benutzte ich den so genannten Wisconsin-Card-Sort-Test und einen Kategorientest aus der Halstead-Reitan-Batterie. Ich ordnete auch eine Kernspintomografie seines Gehirns an. Alle Ergebnisse führten zu derselben Schlussfolgerung: Dieser Mann hatte schwere Schäden an beiden Stirnlappen erlitten.«
»Aber Sie sagten doch, er sei von seiner Verletzung vollständig genesen?«
»Er schien genesen.«
»Hatte er nun einen Hirnschaden erlitten oder nicht?«
»Selbst bei einer massiven Schädigung der Stirnlappen kann der Betroffene immer noch gehen und sprechen und alltägliche Verrichtungen bewältigen. Sie könnten sich mit einem Patienten unterhalten, der eine Lobotomie hatte, ohne irgendetwas Auffälliges festzustellen. Aber er ist dennoch ganz eindeutig hirngeschädigt.« Sie zeigte auf die Röntgenaufnahme. »Dieser Mann leidet unter einem so genannten Stirnhirnsyndrom mit Verlust moralischer Hemmungen. In den Stirnlappen ist unser Sinn für vorausschauendes Denken und Urteilsvermögen lokalisiert. Unsere Fähigkeit, unangemessene Impulse zu unterdrücken. Wenn diese Teile des Gehirns geschädigt werden, ist enthemmtes Sozialverhalten die Folge. Der Betroffene legt unangebrachte Verhaltensweisen an den Tag, ohne irgendwelche Schuldgefühle oder emotionale Betroffenheit zu empfinden. Er verliert die Fähigkeit, seine gewalttätigen Regungen zu unterdrücken. Und wir alle haben diese Momente, wenn der Zorn uns übermannt und wir einfach nur zurückschlagen wollen. Wenn wir das Auto, das uns im Berufsverkehr geschnitten hat, am liebsten rammen würden. Ich bin sicher, dass Sie das Gefühl kennen, Detective. Wenn die Wut Sie so heftig packt, dass Sie einem anderen Menschen wehtun wollen.«
Rizzoli erwiderte nichts. Die unbestreitbare Wahrheit von O’Donnells Worten hatte sie verstummen lassen.
»Unsere Gesellschaft betrachtet Akte der Gewalt als Ausdruck von Boshaftigkeit und moralischer Verworfenheit. Man will uns weismachen, dass wir unser Verhalten voll und ganz unter Kontrolle haben, dass jeder Einzelne von uns den freien Willen hat, sich dafür zu entscheiden, einem anderen Menschen nicht wehzutun. Aber wir werden nicht nur von unseren Moralvorstellungen geleitet. Sondern auch von biologischen Gegebenheiten. Unsere Stirnlappen helfen uns, Denken und Handeln in Einklang zu bringen. Sie helfen uns, die Folgen unseres Handelns abzuwägen. Ohne solche Kontrollinstanzen würden wir jedem plötzlichen Impuls nachgeben. Genau das ist mit diesem Mann geschehen. Er verlor die Fähigkeit, sein Verhalten zu steuern. Seine Tochter löste in ihm sexuelle Regungen aus, also verging er sich an ihr. Seine Frau machte ihn
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