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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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»Sie waren in einem Zimmer mit Warren Hoyt. Und da haben Sie sich nicht eingeschüchtert gefühlt?«
    O’Donnell warf ihr einen kalten Blick zu. »Es handelte sich um ein klinisches Gespräch.«
    »Das glaubten Sie. Aber für ihn war es etwas ganz anderes.« Rizzoli trat einen Schritt auf sie zu, eine Geste verhaltener Aggression, die O’Donnell sehr wohl registrierte.
    Obwohl O’Donnell ihr sowohl von der Statur als auch vom Status her überlegen war, hatte sie gegen Rizzolis unnachgiebige Schärfe keine Chance, und sie errötete noch stärker, als Rizzoli ihre verbalen Attacken fortsetzte.
    »Er war höflich, sagten Sie. Hilfsbereit. Ja, natürlich. Er hatte ja auch genau das bekommen, was er wollte: Er war mit einer Frau allein in einem Zimmer. Mit einer Frau, die dicht genug vor ihm saß, um ihn zu erregen. Aber er verbirgt seine Erregung, darin ist er gut. Er hat ein Talent, sich vollkommen normal mit Ihnen zu unterhalten, während er zugleich daran denkt, wie es wäre, Ihnen die Kehle durchzuschneiden.«
    »Ich fürchte, jetzt geht Ihr Temperament mit Ihnen durch«, sagte O’Donnell.
    »Sie glauben, ich will Ihnen bloß Angst einjagen?«
    »Ist das nicht offensichtlich?«
    »Ich sage Ihnen etwas, was Ihnen wirklich eine Scheißangst einjagen sollte. Warren Hoyt hat Sie bei diesem Gespräch nach Herzenslust beschnüffeln können. Das hat ihn unheimlich angemacht. Und jetzt ist er draußen und schon wieder auf der Jagd nach seinem nächsten Opfer. Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Er vergisst nie den Geruch einer Frau.«
    O’Donnell starrte sie an, und endlich zeigte sich ein Anflug von Angst in ihren Augen. Rizzoli konnte ihre Beklemmung nicht ohne eine gewisse Befriedigung registrieren. Sie wollte, dass O’Donnell zumindest eine Ahnung von dem bekam, was sie selbst ein Jahr zuvor durchlitten hatte.
    »Sie sollten sich schon mal an das Gefühl gewöhnen«, sagte Rizzoli. »Denn jetzt müssen Sie wirklich Angst haben.«
    »Ich habe schon mit Männern wie ihm gearbeitet«, sagte O’Donnell. »Ich weiß, wann ich Angst haben muss.«
    »Hoyt ist anders als alle anderen, denen Sie je begegnet sind.«
    Jetzt lachte O’Donnell. Sie hatte ihre Souveränität wiedergefunden, und der Stolz tat ein Übriges. »Sie sind alle verschieden. Alle einmalig. Und ich kehre niemals einem von ihnen den Rücken zu.«

17
    Meine liebe Dr. O’Donnell,
    Sie haben mich nach meinen frühesten Kindheitserinnerungen gefragt. Ich habe gehört, dass nur wenige Menschen sich an Ereignisse aus ihren ersten drei Lebensjahren erinnern können, weil das Gehirn des Kleinkinds noch nicht die Fähigkeit entwickelt hat, Sprache zu verarbeiten. Doch ohne Sprache können wir die Informationen nicht interpretieren, die unsere Augen und Ohren uns liefern. Was immer die wissenschaftliche Erklärung für diese frühkindliche Amnesie sein mag, auf mich trifft sie jedenfalls nicht zu, denn ich kann mich sehr gut an bestimmte Details aus meinen ersten Lebensjahren erinnern. Ich kann mir ganz bestimmte Bilder ins Gedächtnis rufen, die, wie ich glaube, aus einer Zeit stammen, als ich etwa elf Monate alt war. Zweifellos werden Sie diese Erinnerungen als unecht verwerfen und sie auf spätere Erzählungen meiner Eltern zurückführen. Ich versichere Ihnen jedoch, dass meine Erinnerungen durchaus echt sind, und wären meine Eltern noch am Leben, dann könnten sie Ihnen bestätigen, dass sie korrekt sind und keineswegs auf irgendwelchen Geschichten basieren können, die mir später zu Ohren gekommen sind. Allein die Art der Bilder, die ich mir im Gedächtnis bewahrt habe, macht es äußerst unwahrscheinlich, dass es sich um Ereignisse handelte, über die in meiner Familie offen gesprochen wurde.
    Ich erinnere mich an mein Kinderbett, die weiß gestrichenen Holzlatten und die Querstange, die kleine Bissspuren von meinen Milchzähnen trägt. Eine blaue Decke mit irgendwelchen putzigen Kreaturen darauf – Vögel oder Bienen oder vielleicht kleine Bären. Und hoch über dem Bettchen schwebt eine merkwürdige Apparatur, von der ich heute weiß, dass es ein Mobile war; meinen Kinderaugen aber erschien sie wie ein rätselhaftes Wunderding – glitzernd, ständig in Bewegung. Sterne, Monde und Planeten, wie mein Vater mir später erklärte. Wie typisch für ihn, so etwas über das Kinderbett seines Sohnes zu hängen. Er war Raumfahrtingenieur, und er war davon überzeugt, dass man aus jedem Kind ein Genie machen könnte, wenn man das heranwachsende Gehirn nur

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