Der Meister
seine Worte wie Gift durch die Poren ihrer Haut gedrungen seien. Und es warteten noch mehr Briefe darauf, gelesen zu werden – noch mehr Gift, dem sie sich aussetzen musste.
Das Klopfen an der Toilettentür ließ sie zusammenfahren.
»Jane? Sind Sie da drin?« Es war Dean.
»Ja«, antwortete sie.
»Ich habe den Videorekorder im Besprechungsraum vorbereitet.«
»Ich komme sofort.«
Sie sah in den Spiegel, und was sie dort sah, gefiel ihr gar nicht. Die müden Augen, der verunsicherte Blick. So darf er dich nicht sehen, dachte sie.
Sie drehte den Wasserhahn auf, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und tupfte es mit einem Papiertaschentuch ab. Dann richtete sie sich kerzengerade auf und atmete tief durch. Schon besser, dachte sie sich, als sie ihr Spiegelbild erneut betrachtete. Du darfst sie nie sehen lassen, dass du ins Schwitzen gerätst.
Sie ging hinüber in den Besprechungsraum und nickte Dean flüchtig zu. »Okay. Sind wir so weit?«
Er hatte den Fernseher bereits eingeschaltet, und das rote Licht am Videorekorder leuchtete. Nun griff er nach dem braunen Umschlag, den O’Donnell ihnen mitgegeben hatte, und nahm die Videokassette heraus. »Das Datum ist der siebte August«, sagte er.
Das ist erst drei Wochen her, dachte sie. Der Gedanke, wie frisch diese Bilder, diese Worte sein würden, machte sie nervös.
Sie nahm am Tisch Platz und legte Notizblock und Kugelschreiber bereit. »Fangen wir an.«
Dean legte die Kassette ein und drückte auf Play.
Das erste Bild, das sie sahen, zeigte eine adrett frisierte O’Donnell in einem eleganten blauen Strickkostüm, die vor einer primitiven weißen Bimssteinwand stand – ein merkwürdiger Kontrast. »Heute ist der siebte August. Ich befinde mich in der Strafvollzugsanstalt Souza-Baranowski in Shirley. Die Person, um die es geht, ist Warren D. Hoyt.«
Der Bildschirm flackerte auf und wurde schwarz, und dann erschien ein neues Bild – ein Gesicht, das Rizzoli vor Entsetzen in ihrem Stuhl zusammenfahren ließ. Jedem neutralen Betrachter wäre Hoyt als ein ganz gewöhnlicher Mann erschienen; eines dieser Gesichter, die man im nächsten Augenblick schon wieder vergessen hat. Seine hellbraune Kurzhaarfrisur war frisch geschnitten, sein Gesicht war blass vom langen Eingesperrtsein. Das Hemd aus blauem Gefängnisdrillich war mindestens eine Nummer zu groß für seine schmächtigen Schultern. Die Menschen, die ihm im Alltag begegnet waren, hatten ihn als nett und höflich beschrieben, und das war auch das Bild, das er in diesen Videoaufnahmen vermittelte. Ein freundlicher, harmloser junger Mann.
Er wandte sich von der Kamera ab und fixierte einen Punkt außerhalb des Bildausschnitts. Sie hörten das Geräusch von Stuhlbeinen, die über den Boden schleiften, und dann O’Donnells Stimme.
»Sitzen Sie bequem, Warren?«
»Ja.«
»Dann können wir also beginnen?«
»Jederzeit, Dr. O’Donnell.« Er lächelte. »Ich habe heute keine Termine mehr.«
»Gut.« O’Donnells Stuhl knarrte; sie räusperte sich. »Sie haben mir in Ihren Briefen bereits einiges über Ihre Familie und über Ihre Kindheit mitgeteilt.«
»Ich habe mich bemüht, nichts auszulassen. Ich denke, es ist wichtig, dass Sie jeden Aspekt meiner Persönlichkeit verstehen.«
»Ja, das weiß ich auch zu schätzen. Ich habe nicht oft Gelegenheit, einen so eloquenten Menschen wie Sie zu interviewen. Insbesondere jemanden, der so analytisch an sein eigenes Verhalten herangeht, wie Sie das tun.«
Hoyt zuckte mit den Achseln. »Nun, Sie wissen vielleicht, was Sokrates über das unreflektierte Leben gesagt hat. Dass es nicht lebenswert ist.«
»Aber bisweilen können wir die Selbstanalyse auch zu weit treiben. Es ist ein Mechanismus der Selbstverteidigung. Der Rückzug auf eine intellektuelle Betrachtungsweise als Mittel, um uns von unseren eigenen primitiven Emotionen zu distanzieren.«
Hoyt schwieg einen Moment. Dann sagte er mit leicht spöttischem Unterton: »Sie möchten, dass ich über meine Gefühle spreche.«
»Ja.«
»Irgendwelche bestimmten Gefühle?«
»Ich möchte wissen, was Menschen dazu bringt, andere zu töten. Was sie zur Gewalt treibt. Ich will wissen, was sich in Ihrem Kopf abspielt. Was Sie empfinden, wenn Sie töten.«
Er schien über die Frage nachdenken zu müssen. Schließlich antwortete er: »Es ist nicht so leicht zu beschreiben.«
»Versuchen Sie es.«
»Im Interesse der Wissenschaft?« Wieder lag Spott in seiner Stimme.
»Ja. Im Interesse der Wissenschaft. Was
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