Der Meister
wiedererkannte. Keine Eroberin, sondern ein Opfer. Eine Frau, die sie verachtete.
Sie stieß die Tür auf und stieg aus. Stand auf und reckte sich, spürte das beruhigende Gewicht der Waffe in dem Halfter an ihrer Hüfte. Sollten sie doch kommen, die Schweine – sie wartete nur darauf.
Sie fuhr allein mit dem Lift zur Oberfläche; die Schultern gestrafft, getragen vom Stolz, der die Angst übertrumpfte. Als sie aus dem Aufzug trat und die vielen Menschen erblickte, erschien ihr die Waffe plötzlich als eine unnötige, ja übertriebene Vorsichtsmaßnahme. Sie zog ihren Blazer straff, um das Halfter so gut wie möglich zu verbergen, als sie in das Krankenhaus hineinging und sich im Aufzug zu drei milchgesichtigen Studenten mit Stethoskopen in den Kitteltaschen gesellte. Sie warfen sich gegenseitig medizinische Fachausdrücke um die Ohren und waren so damit beschäftigt, mit ihrem frisch erworbenen Wissen zu glänzen, dass sie die erschöpft wirkende Frau, die neben ihnen stand, gar nicht bemerkten. Ja, die mit der versteckten Waffe unter dem Blazer.
Auf der Intensivstation marschierte sie schnurstracks an der Stationszentrale vorbei und steuerte Kabine 5 an. Dort blieb sie stehen und blickte irritiert durch die Glasscheibe.
Eine Frau lag in Korsaks Bett.
»Verzeihung, Ma’am«, sagte eine Schwester. »Besucher müssen sich vorne anmelden.«
Rizzoli wandte sich zu ihr um. »Wo ist er?«
»Wer?«
»Vince Korsak. Er sollte eigentlich in dem Bett dort liegen.«
»Tut mir Leid, ich habe erst um drei angefangen …«
»Sie sollten mich doch anrufen, wenn irgendetwas ist!«
Inzwischen hatte sie mit ihrem hektischen Gebaren eine andere Schwester auf sich aufmerksam gemacht, die sofort einschritt und in dem beschwichtigenden Ton einer Frau, die den Umgang mit aufgeregten Verwandten gewohnt ist, auf sie einredete.
»Mr. Korsak wurde heute Morgen extubiert, Ma’am.«
»Was heißt das?«
»Wir haben den Schlauch aus seinem Hals entfernt, der ihm beim Atmen helfen sollte. Es geht ihm jetzt besser, und deshalb haben wir ihn in die Überwachungsstation am anderen Ende des Gangs verlegt.« In rechtfertigendem Ton setzte sie hinzu: »Wir haben seiner Frau aber Bescheid gesagt.«
Rizzoli dachte an Diane Korsak, an ihre ausdruckslosen Augen, und sie fragte sich, ob sie den Anruf überhaupt registriert hatte, oder ob die Information einfach untergegangen war wie eine Münze, die man in einen dunklen Brunnenschacht wirft.
Als sie an der Tür von Korsaks Zimmer ankam, hatte sie sich schon wieder beruhigt. Vorsichtig steckte sie den Kopf hinein.
Er war wach und hatte den Blick starr nach oben gerichtet. Die Bettdecke wölbte sich über seinem Bauch, und die Arme hatte er stocksteif an den Rumpf angelegt, als fürchtete er, sich in dem Gewirr von Drähten und Schläuchen zu verheddern.
»Hallo«, sagte sie leise.
Er sah sie an. »Hallo«, erwiderte er krächzend.
»Können Sie Besuch gebrauchen?«
Statt einer Antwort klopfte er mit der flachen Hand auf die Matratze; eine Aufforderung, sich zu ihm zu setzen. Bei ihm zu bleiben.
Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm ans Bett. Er hatte den Blick wieder gehoben, jedoch nicht zur Decke, wie sie zuerst gedacht hatte, sondern zu einem Monitor, der in der Zimmerecke befestigt war. Eine EKG-Kurve pulste über den Schirm.
»Das da ist mein Herz«, sagte er. Er war noch heiser von dem Tubus, und seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.
»Sieht so aus, als ob es wieder hübsch regelmäßig tickt«, sagte sie.
»Ja.« Eine Stille trat ein, während er weiter den Monitor fixierte.
Sie sah den Blumenstrauß, den sie am Morgen für ihn bestellt hatte, auf dem Nachttisch stehen. Es war die einzige Vase im Zimmer. Hatte denn niemand sonst daran gedacht, ihm Blumen zu schicken? Nicht einmal seine Frau?
»Ich habe Diane gestern getroffen«, sagte sie.
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und wandte sich gleich wieder ab, allerdings nicht so schnell, dass ihr der resignierte Ausdruck in seinen Augen entgangen wäre.
»Sie hat Ihnen wohl nichts davon erzählt.«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie war heute noch nicht hier.«
»Oh. Na, dann schaut sie sicher später noch rein.«
»Weiß der Teufel.«
Seine Antwort verblüffte sie. Vielleicht hatte er sich auch selbst damit überrascht, denn er lief ganz rot an. »Das hätte ich nicht sagen sollen«, meinte er entschuldigend.
»Sie müssen bei mir kein Blatt vor den Mund nehmen.«
Er blickte wieder zum Monitor
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