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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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auf und seufzte. »Also gut. Es ist beschissen.«
    »Was ist beschissen?«
    »Alles. Schauen Sie mich doch an – mein ganzes Leben lang hab ich immer alles getan, was von mir verlangt wurde. Hab das Geld nach Hause gebracht. Der Kleinen alles gegeben, was sie wollte. Mich nie bestechen lassen, nicht ein einziges Mal. Und dann bin ich plötzlich vierundfünfzig, und zack! – lässt die alte Pumpe mich im Stich. Und ich liege auf dem Rücken und denke mir: Was habe ich denn nun davon gehabt, verdammt noch mal? Ich halte mich immer brav an die Regeln, und was kriege ich dafür? Eine nichtsnutzige Tochter, die immer noch ihren Daddy anpumpt, wenn sie mal klamm ist. Und eine Frau, die sich ständig mit allem, was die Apotheke so zu bieten hat, die Birne zudröhnt. Gegen Prinz Valium kann ich nun mal nicht anstinken. Ich bin ja bloß der Trottel, der dafür sorgt, dass sie ein Dach überm Kopf hat, und der die Rechnungen für ihre ganzen Medikamente bezahlt.« Er lachte auf – ein resigniertes, verbittertes Lachen.
    »Warum sind Sie immer noch verheiratet?«
    »Was wäre denn die Alternative?«
    »Als Single leben.«
    »Allein leben, meinen Sie.« Er betonte das Wort allein, als ob das die schlechteste Alternative von allen sei. Manche Menschen hoffen auf das Beste, wenn sie eine Entscheidung treffen, aber Korsak hatte sich für etwas entschieden, nur um etwas anderes zu vermeiden, was er für noch schlimmer hielt. Sein Blick wurde wieder von der Aufzeichnung seines Herzschlags angezogen, der zuckenden grünen Linie, dem Symbol seiner Sterblichkeit. Unglückliche oder glückliche Entscheidungen, alles hatte nur zu diesem Augenblick hingeführt, zu diesem Krankenzimmer, wo Angst vor der Zukunft und Reue über Versäumtes sich die Waage hielten.
    Und wo werde ich sein, wenn ich so alt bin?, fragte sie sich. Werde ich auch in einem Krankenbett liegen und zur Decke starren? Die Entscheidungen bedauern, die ich getroffen habe, und den Möglichkeiten nachweinen, die ich nie ergriffen habe? Sie dachte an ihre stille Wohnung mit den kahlen Wänden, dem einsamen Bett. War ihr Leben denn so viel besser als Korsaks?
    »Ich habe ständig Angst, dass es aufhören könnte«, sagte er. »Dass es plötzlich eine flache Linie anzeigt, verstehen Sie? Da würde ich wirklich die Panik kriegen.«
    »Dann schauen Sie eben nicht hin.«
    »Aber wenn ich nicht hinschaue, wer passt denn dann darauf auf?«
    »Die Schwestern draußen in der Station haben doch alles ständig im Auge. Die haben dort auch ihre Monitore, wissen Sie.«
    »Aber schauen sie auch wirklich hin? Oder machen sie sich einfach nur einen faulen Lenz und schwatzen über Klamotten und Männer und so? Ich meine, das ist schließlich mein Herz da oben, verdammt noch mal.«
    »Sie haben noch ihre Alarmsysteme. Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit fangen die Apparate an zu piepsen.«
    Er sah sie fragend an, »Sind Sie sicher?«
    »Vertrauen Sie mir etwa nicht?«
    »Ich weiß nicht.«
    Für ein paar Sekunden trafen sich ihre Blicke, und sie, wurde plötzlich von Scham überwältigt. Sie konnte wirklich nicht erwarten, dass er ihr vertraute – nicht nach den Ereignissen auf dem Friedhof. Das Bild verfolgte sie immer noch: Korsak, schwer angeschlagen am Boden liegend, allein und verlassen in der Dunkelheit. Und sie, die sie nichts als ihre Verfolgungsjagd im Kopf gehabt hatte und für alles andere blind gewesen war. Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen, und so senkte sie den Blick auf seinen massigen, mit Pflastern und Infusionsschläuchen übersäten Arm.
    »Es tut mir so Leid«, sagte sie. »Mein Gott, es tut mir wirklich Leid.«
    »Was denn?«
    »Dass ich mich nicht nach Ihnen umgesehen habe.«
    »Wovon reden Sie eigentlich?«
    »Erinnern Sie sich denn nicht?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Sie verstummte, als ihr klar wurde, dass er wirklich keine Erinnerung an den Vorfall hatte. Dass sie einfach nur den Mund halten müsste und so verhindern könnte, dass er je erfuhr, wie sie ihn im Stich gelassen hatte. Schweigen wäre ein bequemer Ausweg gewesen, aber sie wusste genau, dass sie nicht mit dieser Last leben konnte.
    »Was ist Ihnen von dieser Nacht auf dem Friedhof noch im Gedächtnis geblieben?«, fragte sie. »Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?«
    »Das Letzte? Ich bin gerannt. Ich glaube, wir sind beide gerannt, oder? Wir waren hinter diesem Kerl her.«
    »Und was noch?«
    »Ich weiß noch, dass ich stinksauer war.«
    »Wieso?«
    Er schnaubte verächtlich. »Weil

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