Der Meister
er bei seiner Tat ein Publikum hat. Wenn er weiß, dass ein anderer Mann ihm dabei zusieht, wie er sich über seine Beute hermacht.«
»Und Warren Hoyt holt sich seinen Kick beim Zuschauen«, sagte Rizzoli.
Zucker nickte. »Genau. Der eine Täter zieht gerne eine Schau ab. Und der andere schaut gerne zu. Es ist ein perfektes Beispiel für Mutualismus. Diese beiden Männer sind die idealen Partner. Ihre krankhaften Gelüste ergänzen sich. Zusammen können sie effektiver arbeiten. Sie können ihre Opfer leichter bändigen, und sie können ihre Stärken und Fähigkeiten kombinieren. Schon als Hoyt noch im Gefängnis saß, imitierte der Dominator bereits seine Techniken. Er kopierte bereits Elemente aus dem Repertoire des Chirurgen.«
Es war ein Punkt, den Rizzoli vor allen anderen erkannt hatte, doch niemand unter den Anwesenden hielt dieses Detail für erwähnenswert. Vielleicht hatten sie es ja vergessen – im Gegensatz zu ihr.
»Wir wissen, dass Hoyt in der Haft einige Briefe aus der Bevölkerung erhalten hat. Selbst aus dem Gefängnis heraus hat er es geschafft, einen Bewunderer zu gewinnen. Er hat ihn sich herangezogen, hat ihn vielleicht sogar instruiert.«
»Ein Lehrling«, sagte Rizzoli leise.
Zucker sah sie an. »Ein interessantes Wort, das Sie da benutzen. Ein Lehrling – das ist jemand, der unter der Anleitung und Aufsicht eines Meisters eine Fertigkeit oder ein Handwerk erlernt. In diesem Fall das Handwerk der Menschenjagd.«
»Aber wer ist der Lehrling und wer der Meister?«, fragte Dean.
Seine Frage beunruhigte Rizzoli. Seit den Ereignissen vor einem Jahr stand Warren Hoyt in ihren Augen für das Böse schlechthin, für die schlimmsten Verbrechen, die sie sich vorstellen konnte. In der Welt der Serienmörder konnte ihm keiner das Wasser reichen. Und nun hatte Dean eine Möglichkeit angesprochen, die sie am liebsten ignoriert hätte: dass der Chirurg vielleicht nur der Gehilfe eines noch furchterregenderen Ungeheuers war.
»Wie immer die Beziehung zwischen ihnen sein mag«, erwiderte Zucker, »sie sind jedenfalls im Team weitaus effektiver, als wenn sie einzeln auf die Jagd gingen. Und da sie ein Team sind, ist es denkbar, dass das Muster ihrer Überfälle sich ändern wird.«
»Inwiefern?«, fragte Sleeper.
»Bisher hat der Dominator sich Paare ausgesucht. Er macht den Mann zu seinem Publikum, zwingt ihn, die Vergewaltigung mit anzusehen. Er will, dass ein anderer Mann dabei ist, wenn er sich an seinem Opfer vergreift.«
»Aber jetzt hat er einen Partner«, sagte Rizzoli. »Einen Mann, der ihm zuschaut. Einen Mann, der zuschauen will. «
Zucker nickte. »Es ist durchaus vorstellbar, dass Hoyt eine zentrale Rolle in der Fantasie des Dominators ausfüllt. Die des Zuschauers, des Publikums.«
»Was wiederum bedeutet, dass er sich das nächste Mal vielleicht kein Paar aussuchen wird«, sagte sie. »Sondern…« Sie brach ab, wollte den Gedanken nicht zu Ende führen.
Aber Zucker wartete auf ihre Antwort – auf die Schlussfolgerung, zu der er selbst bereits gelangt war. Er saß da, den Kopf zur Seite geneigt, und seine blassen Augen musterten sie mit unheimlicher Intensität.
Es war Dean, der es schließlich aussprach. »Sie werden sich eine allein stehende Frau aussuchen«, sagte er.
Zucker nickte. »Leicht zu überwältigen, leicht in Schach zu halten. Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass ihnen ein Mann in die Quere kommen könnte, und können ihre ganze Aufmerksamkeit der Frau widmen.«
Mein Auto. Mein Haus. Ich.
Rizzoli fuhr auf einen Parkplatz in der Tiefgarage des Pilgrim Hospital und drehte den Zündschlüssel um. Bevor sie ausstieg, blieb sie noch eine Weile mit geschlossenen Türen im Wagen sitzen und suchte die Umgebung ab. Als Polizistin hatte sie sich immer in der Rolle der Kämpferin gesehen, der Jägerin. Nie hatte sie sich vorstellen können, einmal selbst das Opfer zu sein. Aber jetzt musste sie feststellen, dass sie sich genau wie ein Opfer verhielt, ängstlich und misstrauisch wie ein Kaninchen, das wartet, bis die Luft rein ist, ehe es sich aus dem sicheren Bau wagt. Sie, die immer so furchtlos gewesen war, sah sich jetzt gezwungen, nervöse Blicke in alle Richtungen zu werfen, bevor sie aus dem Wagen stieg. Sie, die Türen eingetreten hatte, die immer ganz vorne mit dabei gewesen war, wenn die Cops die Wohnung eines Tatverdächtigen gestürmt hatten, erblickte jetzt im Rückspiegel das bleiche Gesicht, die gehetzten Augen einer Frau, die sie kaum
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