Der Meister
zog es vor, sich in ihrer aggressiven, eigenwilligen Handschrift Notizen zu machen. Die Seite war ein Gewirr von einzelnen Worten und geschwungenen Pfeilen, mit kleinen Kästchen, die wichtige Details hervorhoben. Aber es herrschte Ordnung in ihrem Chaos, und in der Dauerhaftigkeit der Tinte lag eine gewisse Sicherheit. Sie schlug eine neue Seite auf und versuchte, sich auf Dr. Zuckers Flüsterstimme zu konzentrieren. Versuchte, sich nicht durch die Gegenwart von Gabriel Dean ablenken zu lassen, der direkt neben ihr saß und sich ebenfalls Notizen machte, allerdings in einer wesentlich ordentlicheren Handschrift. Ihr Blick schweifte zur Seite ab, registrierte die hervorstehenden Adern auf seiner Hand, die den Kugelschreiber hielt, die weiße, frisch gestärkte Manschette, die aus dem Ärmel seines grauen Jacketts hervorlugte. Er war nach ihr in die Sitzung gekommen und hatte sich den Platz neben ihr ausgesucht. Hatte das irgendetwas zu bedeuten? Nein, Rizzoli. Es bedeutet nur, dass neben dir noch ein Platz frei war. Es war reine Zeitverschwendung, sich mit solchen Gedanken abzugeben, und es lenkte sie nur vom Wesentlichen ab. Sie war zerstreut, ihre Aufmerksamkeit sprang hin und her, und sogar die Zeilen auf ihrem Notizblock begannen schon, schief und schräg über die Seite zu wandern. Es waren noch fünf andere Männer im Raum, aber sie nahm nur Dean wahr. Sie war inzwischen mit seinem Duft vertraut und konnte seine kühle, reine Note von der olfaktorischen Kakophonie der diversen Rasierwässer im Raum klar unterscheiden. Rizzoli, die nie Parfüm trug, war von Männern umgeben, die nie ohne vor die Tür gingen.
Sie las die Worte, die sie sich soeben notiert hatte: Mutualismus: Symbiose mit Vorteilen für beide bzw. alle beteiligten Organismen.
Das Wort, das Warren Hoyts Pakt mit seinem neuen Partner charakterisierte. Der Chirurg und der Dominator, die jetzt im Team arbeiteten. Die gemeinsam jagten und sich an totem Fleisch delektierten.
»Warren Hoyt hat schon immer am besten mit einem Partner arbeiten können«, sagte Dr. Zucker. »So jagt er am liebsten. So hat er mit Andrew Capra zusammengearbeitet – bis zu dessen Tod. Wir können sogar noch weiter gehen und sagen, dass Hoyt auf die Mitwirkung eines anderen Mannes angewiesen ist, weil sie Teil seines Rituals ist.«
»Aber letztes Jahr hat er doch allein getötet«, wandte Barry Frost ein. »Damals hatte er keinen Partner.«
»In gewisser Weise schon«, sagte Zucker. »Denken Sie einmal an die Opfer, die er sich hier in Boston ausgesucht hat. Alles Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren – allerdings hatten andere Männer ihnen das angetan, nicht Hoyt. Er fühlt sich zu verletzten Frauen hingezogen, zu Frauen, die durch eine Vergewaltigung gezeichnet sind. In seinen Augen sind sie dadurch beschmutzt, mit einem Makel behaftet. Und somit angreifbar, zugänglich. Im Grunde fürchtet sich Hoyt vor normalen Frauen, und seine Angst macht ihn impotent. Er kann sich nur stark fühlen, wenn er sich die Frau als etwas Minderwertiges vorstellt. Wenn sie symbolisch vernichtet ist. Als er mit Capra jagte, war es sein Partner, der die Frauen vergewaltigte. Erst danach zückte Hoyt sein Skalpell. Nur so konnte er aus dem darauffolgenden Ritual den vollen Lustgewinn ziehen.« Zucker sah sich in der Runde um und erntete allgemeines Kopfnicken. Das waren alles Details, mit denen die hier versammelten Ermittler bereits vertraut waren. Mit Ausnahme von Dean waren sie alle an der Fahndung nach dem Chirurgen beteiligt gewesen; sie kannten Warren Hoyts Handschrift zur Genüge.
Zucker schlug einen Ordner auf, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Und nun kommen wir zu unserem zweiten Killer. Dem Dominator. Sein Ritual ist quasi ein Spiegelbild dessen, was Warren Hoyt tut. Er hat keine Angst vor Frauen. Und auch nicht vor Männern. Im Gegenteil, er sucht sich sogar bewusst Frauen aus, die mit männlichen Partnern zusammenleben. Es ist nicht etwa so, dass der Ehemann oder der Freund einen Störfaktor darstellte. Nein, der Dominator will offenbar, dass der Mann dabei ist, und er ist für die Begegnung mit ihm gerüstet, wenn er in das Haus des Opfers eindringt. Er hat eine Betäubungspistole und Klebeband dabei, um den Mann außer Gefecht setzen und fesseln zu können. Und zwar in einer Stellung, in der er gezwungen ist, das Folgende mit anzusehen. Der Dominator tötet den Mann nicht sofort, was gewiss die praktischste Vorgehensweise wäre. Es verschafft ihm einen Kick, wenn
Weitere Kostenlose Bücher