Der Meister
Rizzoli.
»Das hat die Haushälterin mir erzählt. Nach dem Unfall wollte Maria Jean kaum noch verreisen. Weiter als bis Boston konnte Kenny sie nicht mehr mitschleppen. Aber er war es nun einmal gewohnt, jedes Jahr im Januar nach St. Barthelemy zu düsen, also hat er sie einfach hier zurückgelassen.«
»Allein?«
Gorman nickte. »Nett, nicht wahr? Sie hatte eine Haushälterin, die alles für sie erledigt hat – sie hat geputzt, sie zum Einkaufen gefahren, weil Maria Jean nicht gerne Auto gefahren ist. Ist ziemlich einsam hier oben, aber die Haushälterin hatte den Eindruck, dass Maria Jean glücklicher war, wenn Kenny nicht in der Nähe war.« Gorman schwieg eine Weile. »Ich muss zugeben, als wir Kenny fanden, ist mir der Gedanke durch den Kopf geschossen …«
»… dass Maria Jean es getan haben könnte«, ergänzte Rizzoli.
»Das ist immer die erste Möglichkeit, die man in Betracht zieht.« Er zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Finden Sie es nicht sehr heiß hier?«
»Warm ist es schon.«
»Ich kann die Hitze in letzter Zeit nicht mehr so gut vertragen. Bin wohl immer noch ziemlich angeschlagen. Na ja, selber schuld – was muss ich auch in Mexiko Meeresfrüchte essen?«
Sie gingen zum anderen Ende des Wohnzimmers, vorbei an den gespenstischen Formen der abgedeckten Möbel und einem gewaltigen gemauerten Kamin mit einem sauber geschichteten Stapel Brennholz daneben. Genug, um das Feuer an einem kalten neuenglischen Winterabend in Gang zu halten. Gorman führte sie zu einer Stelle des Zimmers, wo nur das blanke Parkett und die weiß gestrichene Wand zu sehen waren. Rizzoli registrierte den frischen Anstrich, und sofort stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Sie sah hinunter auf den Boden und entdeckte, dass die Eichendielen hier heller waren als anderswo im Zimmer – abgeschliffen und neu versiegelt. Aber Blutspuren ließen sich nicht so leicht auslöschen, und wenn sie das Zimmer abgedunkelt und die Stellen mit Luminol besprüht hätten, dann hätten sie gesehen, dass der Boden hier noch mit Blut getränkt war – so tief waren seine chemischen Spuren in die Ritzen und die Maserung des Holzes eingedrungen, dass nichts sie je vollständig auslöschen konnte.
»Kenny hat hier an der Wand gelehnt«, sagte Gorman und zeigte auf die frisch gestrichene Stelle. »Die Beine ausgestreckt, die Hände hinter dem Rücken. Hand- und Fußgelenke mit Klebeband gefesselt. Ein einziger Schnitt durch die Kehle, mit einer Art Rambo-Messer.«
»Keine anderen Wunden?«, fragte Rizzoli.
»Nur die am Hals. Sah aus wie eine Hinrichtung.«
»Tasernarben auf der Haut?«
Gorman zögerte. »Wissen Sie, er hatte schon rund zwei Tage hier gelegen, als die Haushälterin ihn fand. Und es waren zwei heiße Tage. Da hat seine Haut schon nicht mehr so taufrisch ausgesehen. Vom Geruch ganz zu schweigen. Kann schon sein, dass die Male übersehen wurden.«
»Haben Sie den Boden mal mit wechselnder Beleuchtung untersucht?«
»Es war alles voller Blut hier. Ich weiß nicht, ob wir da mit einem Luma-Lite irgendwas hätten entdecken können. Aber es ist alles auf dem Tatortvideo festgehalten.« Er sah sich im Zimmer um und entdeckte den Fernseher und den Videorekorder. »Vielleicht schauen wir es uns einfach mal an, wie wär’s? Das dürfte die meisten Ihrer Fragen beantworten.«
Rizzoli ging zum Fernseher, schaltete die Geräte ein und schob die Kassette in den Videorekorder. Aus dem Fernseher plärrte der Home-Shopping-Kanal. Eine Stimme pries eine Zirkonium-Halskette für nur 99,95 Dollar an, die am Schwanenhals eines Models funkelte.
»Diese Dinger machen mich verrückt«, sagte Rizzoli, während sie mit zwei verschiedenen Fernbedienungen herumhantierte. »Ich habe es bis heute noch nicht geschafft, meinen zu programmieren.« Sie blickte sich Hilfe suchend zu Frost um.
»Mich dürfen Sie nicht fragen.«
Gorman seufzte und nahm die Fernbedienung. Das zirkoniumgeschmückte Model verschwand und wurde durch das Bild der Auffahrt des Waite-Hauses ersetzt. Der Wind, der über das Mikrofon pfiff, verzerrte die Stimme des Kameramanns, der sich als Detective Pardee identifizierte und Zeit, Datum und Ort nannte. Es war der zweite Juni, siebzehn Uhr, und es war ein stürmischer Tag; im Hintergrund wiegten die Bäume sich im Wind. Pardee richtete die Kamera auf das Haus und begann die Stufen hochzugehen. Das verwackelte Fernsehbild zeigte Töpfe mit blühenden Geranien –
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