Der Meister
Fahrer zu sprechen.
Noch bevor sie sich vorstellen konnte, rief der Mann ihnen zu: »Sind Sie vielleicht vom Boston P. D.?«
»Wie haben Sie das erraten?«, fragte sie.
»Ich habe Ihr Nummernschild gesehen. Hatte mir schon gedacht, dass Sie sich verfahren würden.«
»Rizzoli und Frost, Wir wollten Sie eben anpiepsen, um Sie nach dem Weg zu fragen.«
»Das Handy nützt Ihnen herzlich wenig hier in der Senke. Ist ein Funkloch. Fahren Sie doch einfach hinter mir her den Berg hoch.« Er ließ seinen Wagen an.
Ohne Gorman als Führer hätten sie Cranberry Ridge nie gefunden. Es war lediglich ein ungeteerter Waldweg, der mit einem an einen Pfosten genagelten Holzschild als Feuerwehr-Zufahrtsweg 24 gekennzeichnet war. Sie holperten über Furchen und Rinnen, durch einen dichten Tunnel aus Bäumen, der jegliche Aussicht versperrte. Der Weg wand sich in Serpentinen bergan. Endlich tauchten sie aus dem Wald auf, und im gleißenden Sonnenlicht erblickten sie einen in Terrassen angelegten Garten und eine grüne Wiese, die sanft zu einem großen Haus hoch oben auf dem Hügel anstieg. Der Anblick verblüffte Frost derart, dass er abrupt auf die Bremse trat. Beide sahen sich staunend um.
»Das würde man nie denken, wenn man unten vorbeifährt«, sagte er. »Da sieht man nur diesen popeligen Waldweg und meint, der führt bloß zu einer Hütte oder einem Wohnwagen, wo irgendein Penner haust. Aber so was – niemals.«
»Vielleicht ist das genau der Zweck dieses popeligen Waldwegs.«
»Sich den Pöbel vom Hals zu halten?«
»Ja. Hat bloß leider nicht funktioniert, wie?«
Als sie hinter Gormans Wagen parkten, war er bereits ausgestiegen und wartete in der Auffahrt, um sie zu begrüßen. Wie Frost trug er einen Anzug, aber seiner schien etwas zu weit, so als hätte er einiges an Gewicht verloren, seit er ihn gekauft hatte. Auch sein fahlgelber Teint und seine schlaffe Gesichtshaut schienen auf eine jüngst überstandene Krankheit hinzudeuten.
Er übergab Rizzoli einen Aktenordner und eine Videokassette. »Das Tatortvideo«, erklärte er. »Die restlichen Akten kopieren wir Ihnen noch. Einen Teil habe ich im Kofferraum – die können Sie nachher gleich mitnehmen.«
»Dr. Isles wird Ihnen den abschließenden Bericht über die Untersuchung des Leichnams zuschicken«, sagte Rizzoli.
»Todesursache?«
Sie schüttelte den Kopf. »Lässt sich nicht mehr feststellen. Zu stark skelettiert.«
Gorman seufzte und blickte zum Haus hinüber. »Nun ja, wenigstens wissen wir jetzt, wo Maria Jean abgeblieben ist. Das hätte mir fast den Verstand geraubt.« Er deutete auf das Haus. »Da drin gibt’s nicht mehr viel zu sehen. Der Reinigungstrupp war schon da. Aber Sie hatten ja darum gebeten, es zu sehen.«
»Wer wohnt jetzt hier?«, fragte Frost.
»Niemand – seit dem Mord.«
»Eine Schande, dass so ein schönes Haus leer steht.«
»Es hängt immer noch beim Nachlassgericht. Selbst wenn sie es auf den Markt bringen könnten, wäre es schwierig, einen Käufer dafür zu finden.«
Sie stiegen die Stufen zur Veranda hoch, wo sich das vom Wind verwehte Laub angehäuft hatte und Kübel mit verwelkten Geranien am Dachvorsprung hingen. Augenscheinlich hatte hier seit Wochen niemand mehr gekehrt oder die Blumen gegossen, und eine Atmosphäre der Verwahrlosung hatte sich bereits wie Spinnweben über das Anwesen gelegt.
»Ich bin seit Juli nicht mehr hier gewesen«, sagte Gorman, während er einen Schlüsselring aus der Tasche zog und den passenden Schlüssel heraussuchte. »Ich bin erst seit letzter Woche wieder im Dienst, und noch immer nicht wieder ganz auf dem Damm. Ich kann’s Ihnen sagen: So eine Hepatitis schlaucht einen ganz schön. Dabei hatte ich bloß die harmlosere Variante, Hepatitis A. Wird mich wenigstens nicht umbringen …« Er sah seine Besucher von der Seite an. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Essen Sie nie Meeresfrüchte in Mexiko.«
Endlich hatte er den richtigen Schlüssel gefunden und sperrte die Haustür auf. Beim Eintreten schlug Rizzoli der Geruch von frischer Farbe und Bohnerwachs entgegen. Ein blitzblank geputztes Haus – und ein verlassenes, dachte sie, als sie die gespenstischen Formen der mit Tüchern verhängten Möbel im Wohnzimmer erblickte. Die weißen Eichendielen glänzten wie polierte Spiegel, und durch das Panoramafenster fiel strahlendes Sonnenlicht herein. Das Haus auf dem Gipfel des Hügels thronte frei über der klaustrophobischen Enge des Waldes, und der Blick reichte ungehindert bis
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